Francis Wurtz: »Die EU hat kläglich versagt«

Der Fraktionsvorsitzende der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament, Francis Wurtz, äußerte sich in der Tageszeitung NEUES DEUTSCHLAND (22.September 2006) zur europäischen Politik im Nahen Osten.

ND: Der Bundestag hat der Entsendung deutscher Soldaten nach Libanon zugestimmt. Welche Meinung vertritt ihre Fraktion zu solchen Einsätzen?

Wurtz: In unserer Fraktion will niemand ein militaristisches Europa. Dennoch gibt es zu dieser sensiblen Frage, nicht nur bezogen auf Libanon, verschiedene Auffassungen. Ich denke, dass eine große Mehrheit damit einverstanden ist, dass es unter ganz präzisen und strikten Bedingungen eine internationale Friedenstruppe geben kann. Es darf sich nicht um Missionen handeln, die Frieden schaffen, sondern die ihn erhalten wollen. Wir meinen: Wenn es eine politische Übereinkunft gibt und die Konfliktparteien einverstanden sind, dann sollte eine internationale Friedenstruppe stationiert werden, um die politische Übereinkunft zum Erfolg zu führen. Zudem dürfen solche militärischen Missionen nur im Rahmen einer klaren UN-Resolution und unter Respektierung der Charta stattfinden. Außerdem muss gewährleistet sein, dass es unter keinen Umständen eine europäische Armee geben darf.

Wie ist die Sicht der Linken im konkreten Fall Libanon?

Die Mehrheit ist sich einig über das Prinzip: Die Länder, die teilnehmen wollen, können dies tun. Allerdings muss alles genau in dem Rahmen geschehen, den UNO-Generalsekretär Kofi Annan vorgegeben hatte. Die Mission darf nichts zu tun haben mit der Entwaffnung der Hisbollah. Und Annan hatte auch klargestellt, dass die Truppen nicht das Recht haben, an die syrische Grenze zu gehen, außer, die libanesische Regierung hätte ausdrücklich darum gebeten. Dies hat sie aber nicht getan. Da die libanesische Regierung mit der Mission einverstanden war, haben auch wir ihr zugestimmt.

Spielt Deutschland bei derlei Einsätzen eine Sonderrolle?

Wir können natürlich nachvollziehen, dass es Menschen gibt, die einer Teilnahme ihres Landes kritisch gegenüber stehen. Die von einigen Befürwortern in Deutschland vertretene Meinung, dass solche Missionen zur Normalisierung einer internationalen Rolle Deutschlands beitragen, halte ich für ausgesprochen problematisch. Wir verstehen in diesem Zusammenhang sehr gut die Position der Linkspartei.

Welche Vorschläge hat die Linksfraktion denn zur Befriedung der Region?

Die Lösung des Konflikts im Nahen Osten ist untrennbar mit dem Ende der Besatzung der palästinensischen Gebiete verbunden. Wir treten für eine internationale Konferenz ein, die sich mit einer globalen Lösung der Probleme in dieser Region befassen soll und an der alle Partner auf der Basis aller bestehenden Resolutionen des Sicherheitsrates teilnehmen müssen. Uns geht es vor allem um die Resolution 242. In dieser wurde das gleichberechtigte Existenzrecht eines palästinensischen Staates neben dem israelischen Staat in den Grenzen von 1967 mit Ostjerusalem als Hauptstadt festgeschrieben. Natürlich müssen auch andere Fragen geklärt werden, etwa die der Freilassung von mehr als 8000 aus politischen Gründen inhaftierten Palästinensern. Auch die sehr sensible Frage des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge bedarf endlich einer Antwort. Das Recht der palästinensischen Flüchtlinge muss prinzipiell anerkannt werden, für die konkrete Umsetzung dieses Prinzips bedarf es einer fairen Verhandlungslösung. Wenn Israel einlenkt, dann müssen Verhandlungen geführt und es muss nach Wegen gesucht werden, um dies auch zu verwirklichen.

Welche Rolle spielt die EU dabei?

Wir finden, dass die EU in dieser Hinsicht kläglich versagt hat. Dabei hatte sie noch 1980 eine durchaus offensive Politik vertreten. Damals hatte sie respektiert, dass das palästinensische Volk ein grundsätzliches Recht besitzt, das man durchsetzen müsse. 15 Jahre später startete sie so genannte Euro-Mittelmeer-Politik. Offiziell war die mit der großen Ambition einer Problemlösung verbunden. Initiativen dazu hat die Union jedoch nicht ergriffen, auch nicht im Rahmen der so genannten Roadmap mit den USA, Russland und der UNO. Und sie ließ auch die Gelegenheit 2002 verstreichen, als die Arabische Liga den Beirut-Plan angenommen hatte. Die Liga hatte Israel vorgeschlagen, einen gemeinsamen Vertrag mit allen arabischen Ländern abzuschließen. Der Kern war die Anerkennung Palästinas. Als Gegenleistung wollten sie die Beziehungen zu Israel in einer friedlichen Kooperation normalisieren. Oder denken sie an die Rolle des Europäischen Rates während des Libanon-Krieges: Er hatte sehr, sehr lange gebraucht, um wenigstens einen Waffenstillstand zu verlangen. Das hat mich empört, genauso wie die Tatsache, dass er kein kritisches Wort sagte zur israelischen Politik. Im Gegenteil. Der Rat meinte noch am 20.Juli, dass Israel das Recht habe, sich zu verteidigen. Das sollte heißen, dass dieser Krieg für die EU annehmbar ist. Das ist für mich nicht nur unakzeptabel, sondern es steht im Gegensatz zum internationalen Recht und zum europäischen Geist.
Die palästinensische Frage und die Lage in Nahost gehören auf den ersten Platz der internationalen diplomatischen Agenda. Und die EU muss dabei eine tragende Rolle spielen.

Derzeit erlebt Ungarn eine innenpolitische Krise. Welche Folgen könnten sich daraus ergeben?

Zunächst habe ich überhaupt keine Sympathie für die rechten und radikalen Kräfte, die diese Lage ausgenutzt haben, um Krawalle zu organisieren und so zu versuchen, die Regierung zu stürzen. Aber ich finde die Haltung des Regierungschefs extrem zynisch und unakzeptabel. Das Volk auf eine solche Art zu betrügen und es noch offen zu sagen, empfinde ich als unerträglich. Im Kontext der politischen Krise in ganz Europa ist das sehr gefährlich. Es birgt die Gefahr, dass eine solche Entwicklung die radikalen und äußerst rechten Kräfte nach oben spült. Ich glaube nicht, dass dieser Vorgang ohne eine politische Antwort bleiben wird.

(Fragen: Holger Elias)