Linkspartei lehnt neuerlichen Kompromiss zur EU-Dienstleistungsrichtlinie ab

Zur Grundsatzeinigung zur EU-Dienstleistungsrichtlinie des EU-Ministerrates „Wett-bewerbsfähigkeit“ erklären für die Delegation der Linkspartei.PDS im Europäischen Parlament deren Sprecherin Gabi Zimmer (MdEP) und für den Parteivorstand der Linkspartei.PDS Helmut Scholz:

Der Rat „Wettbewerbsfähigkeit“ hat gestern eine Grundsatzeinigung zur EU-Dienstleistungsrichtlinie erzielt, die sich angeblich in der „Substanz“ an den Ände-rungsvorschlägen des Europäischen Parlaments und des geänderten Richtlinienent-wurfs der Europäischen Kommission orientiert. Der genaue Wortlaut der Einigung ist bislang noch nicht veröffentlicht.

Die Linkspartei lehnt diesen neuerlichen Kompromiss zur EU-Dienstleistungsrichtlinie ab. Nach wie vor stellt das Einigungspaket die Weichen auf die Schaffung eines weitgehend deregulierten und liberalisierten Dienstleistungsbin-nenmarkts. Vorprogrammiert bleibt damit ein rigoroser Wettbewerb um niedrige Qua-litäts- und andere Standards im Dienstleistungssektor.

Das auch von der Linkspartei bisher abgelehnte und weithin umstrittene Herkunfts-landsprinzip wird zwar nicht mehr erwähnt. Es wird jedoch auch nicht klargestellt, dass im Rahmen des freien grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs die Auf-lagen und Standards (z.B. Qualität, Haftpflicht usw.) des Mitgliedstaats uneinge-schränkt gelten, in dem die Dienstleistung erbracht wird (Arbeitsort- und Bestim-mungslandprinzip).
Dienstleistern aus anderen EU-Mitgliedstaaten dürfen nur noch Auflagen gemacht werden, wenn sie zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit oder zum Schutz der Gesundheit und der Umwelt unerlässlich sind. Dabei müssen diese Auf-lagen nicht-diskriminierend, erforderlich und verhältnismäßig sein.

Das ist keineswegs neu, sondern war schon in Artikel 17(7) des alten – EU-weit auf Protest gestoßenen – Bolkestein-Entwurfs enthalten. Selbst der Europäische Ge-richtshof hat weitere Auflagen z.B. aus Gründen des Verbraucherschutzes, der Sozi-alpolitik, zum Schutz des Arbeitsmarktes, der Arbeitsbedingungen oder zur bevor-zugten Beschäftigung von Erwerbslosen ausdrücklich für zulässig erklärt.
Der Kompromiss schafft keine Rechtsklarheit, welche Auflagen der Mitgliedstaaten künftig zulässig sein sollen. Er delegiert diese Verantwortung nunmehr an den libera-lisierungsfreundlichen Europäischen Gerichtshof und verstärkt nur noch den Deregu-lierungsdruck.

Besonders problematisch: Künftig sollen eine Reihe von bestehenden Auflagen der Mitgliedstaaten an Dienstleister aus anderen Mitgliedstaaten beim freien Dienstleis-tungsverkehr unzulässig sein: vorherige Registrierung, Genehmigung oder Zertifizie-rung, Beitritt zu einem Berufsband oder einer Standesorganisation, Auflagen an die Selbständigkeit des Dienstleistererbringers oder das Verbot, eigene Infrastrukturen (Büros, Geschäftsräume) zu schaffen. Damit wird der Unterschied zwischen fester Niederlassung und vorübergehender Dienstleistungstätigkeit verwischt, die Bekämp-fung von Scheinselbständigkeit erschwert und die Arbeit z.B. von Handwerkskam-mern und Berufsgenossenschaften gefährdet.
Wir kritisieren darüber hinaus, dass die im alten Bolkestein-Entwurf vorgeschlagene Deregulierung des Niederlassungsrechts der Mitgliedstaaten unverändert beibehal-ten wird.

Insgesamt führen die vorgeschlagenen Regelungen zu einer Diskriminierung von in-ländischen Dienstleistungsunternehmen, denn nur diese müssten sich nach wie vor an alle inländisch geltenden Auflagen und Standards halten. Die inländischen Dienstleister werden deshalb die Abschaffung hoher einheimischer Standards for-dern, um in der Konkurrenz im freien Dienstleistungsverkehr nicht unterzugehen. Das wiederum verursacht einen noch härteren Deregulierungswettlauf.

Völlig inakzeptabel ist, dass wirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse (z.B. Postdienste, Wasser- und Abwasserbetriebe, Abfallentsorgung usw.) nach wie vor von der Dienstleistungsrichtlinie erfasst wären und zugleich soziale Dienste, Bildung und Kulturdienstleistungen nicht explizit von ihr ausgenommen werden sollen.

Die Linkspartei fordert die Bundesregierung, die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission und das Europäische Parlament auf, folgende Mindest-forderungen im Hinblick auf die zweite Lesung der Richtlinie im Europäischen Parla-ment umzusetzen:

• Im freien Dienstleistungsverkehr muss das Bestimmungslandprinzip zugrunde gelegt werden. Für Dienstleister aus anderen EU-Mitgliedstaaten müssen die gleichen Auflagen und Standards (z.B. Verbraucherschutz, Qualität, Qualifi-kation usw.) gelten wie für einheimische Dienstleistungsunternehmen – in Ü-bereinstimmung mit dem Artikel 50 des EG Vertrags zum freien Dienstleis-tungsverkehr. Auflagen, die Dienstleistungserbringer aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminieren, sind abzuschaffen. Alle darüber hinaus gehenden Vorschläge zur Abschaffung von Anforderungen der Mitgliedstaa-ten sind zu streichen.

• Die öffentliche Daseinsvorsorge – d.h. sowohl wirtschaftliche wie nicht-wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse – sind generell vom Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen. Dies gilt auch insbe-sondere für öffentliche wie private soziale Dienstleistungen, Gesundheits-dienste, Pflege, Bildung und Kultur.

• Die vorgeschlagene Deregulierung des Niederlassungsrechts muss unter-bleiben und die Vorschriften der Richtlinie zu Wirtschaftsaufsicht, Verwal-tungszusammenarbeit und Kontrolle so gestaltet werden, dass eine wirksame Kontrolle ermöglicht wird.

Wir meinen: sollte eine Einigung auf dieser Basis nicht möglich sein, muss das Euro-päische Parlament die Richtlinie insgesamt ablehnen.

Und wir verweisen darauf, dass die Europäische Kommission zentrale Aussagen des alten Bolkestein-Entwurfs, die durch das Europäische Parlament gestrichen wurden, nun offensichtlich auf anderem Wege wieder durchzupauken versucht. Dies betrifft insbesondere:

• die Ankündigung der Kommission, den von der Richtlinie ausgenommenen Bereich der Gesundheitsdienste durch eine eigene Richtlinie zu regeln;

• die in den von Beschäftigungskommissar Vladimir Spidla im April vorgestell-ten »Leitlinien für die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbrin-gung von Dienstleistungen« geforderte Abschaffung von Auflagen der Mit-gliedstaaten an Entsendeunternehmen, welche ähnlich wie zuvor bei Bol-kestein eine wirksame Kontrolle der Einhaltung des nationalstaatlichen und EU-Entsenderechts unmöglich machen würden;

• die Klarstellung der Kommission in ihrer Mitteilung zu sozialen Dienstleistun-gen von allgemeinem Interesse, dass soziale Dienstleistungen als „wirtschaft-liche Tätigkeiten“ zu betrachten seien. Damit wären sie wirtschaftlichen Dienstleistungen wie Energieversorgung, Telekommunikation usw. gleich ge-stellt und fielen voll in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie.

Es bleibt dabei: Jeglicher Versuch, den „Geist von Bolkestein“ durch die Hintertür wieder durchzusetzen, stößt auf unseren energischen Widerstand. Eine Zustimmung zu diesem Paket ist nicht möglich und erfordert breitesten gesellschaftlichen Wider-stand. Die Linkspartei bleibt deshalb an der Seite all derer, die sich gegen diesen De-regulierungswahn der EU-Kommission wenden.

Brüssel / Berlin, 30.05. 2006