Rede zur Lage im Nahen Osten
Rede des Fraktionsvorsitzenden der GUE/NGL Francis Wurtz in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Strasbourg am 06. September 2006.
Herr Präsident, Herr Ratsvorsitzender, Frau Kommissarin,
was wir in diesem Sommer erlebt haben, ist für die heutige Zeit in jeder Hinsicht einfach unfassbar.
Zuerst bombardiert ein Staat, Israel, die Zivilbevölkerung des Gazastreifens, hungert sie aus, entführt Minister und Parlamentsabgeordnete, die das Schicksal der 8000 bereits gefangenen Palästinenser teilen müssen, und tötet über 200 Menschen in diesem kleinen Gebiet, das der UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, Jan Egeland, „eine tickende Zeitbombe“ genannt hat. Dann nimmt die Armee desselben Staates den Libanon 34 Tage lang unter Dauerfeuer, wobei laut Human Rights Watch „keinerlei Unterschiede zwischen zivilen und militärischen Zielen gemacht werden“, bringt 1100 Zivilisten um, schlägt ein Viertel der Bevölkerung in die Flucht, verhängt eine totale Blockade über das Land, belegt die Beobachter der internationale Friedenstruppe laut Kofi Annan mit „gezieltem Feuer“, dem mehrere von ihnen zum Opfer fallen, zerstört nach Angaben des UNDP 15 000 Häuser und 78 Brücken, vernichtet lebenswichtige Infrastruktur – Häfen, Flugplätze und Kraftwerke –, verursacht einen gigantischen Ölfleck, setzt Streubomben mit je 644 Sprengladungen ein, von denen 100 000 nach wie vor blind Männer, Frauen und Kinder töten.
Zweitens ist eine Supermacht, die USA, sowohl in Palästina als auch in Libanon an der Strategie ihres Verbündeten unmittelbar beteiligt – und das im Namen des „Krieges gegen den Terrorismus“, der bereits in Irak und Afghanistan läuft. Ihre Außenministerin nennt die Leiden des libanesischen Volkes die „Geburtswehen des Neuen Nahen Ostens“. Sie beliefert Israel mitten im Krieg mit immer wirksameren Waffen, weigert sich, während erbitterte Kämpfe toben, über einen Monat lang, zu einer Waffenruhe aufzurufen, obwohl die libanesische Regierung und der UN-Generalsekretär dringend dazu auffordern.
Drittens und letztens zeigt sich der Rat der EU, eine Institution, die uns besonders nahe steht, lange Zeit nicht in der Lage, einen Waffenstillstand zu verlangen, obwohl die finnische Präsidentschaft sich aktiv darum bemüht und das Parlamentspräsidium einhellig dazu aufruft. Mehr noch, er findet sogar Entschuldigungen für das Vorgehen Israels, indem er das Recht auf „Selbstverteidigung“ bemüht. So richtig es war, die Entführung zweier israelischer Soldaten durch die Hisbollah zu verurteilen, besonders deren schwerwiegenden Entschluss, auf die israelische Bombardierung libanesischer Städte mit dem Abfeuern von Raketen auf israelische Ortschaften zu antworten und sich damit ebenfalls an der Zivilbevölkerung zu vergehen, so sehr sind wir darüber entsetzt und empört, dass Israel de facto grünes Licht gegeben wurde, seinen schrecklichen Krieg viele Tage lang fortzusetzen.
Daher können wir uns nicht damit abfinden, dass heute und im weiteren nur noch vom Beitrag Europas zu UNIFIL und vom Wiederaufbau gesprochen wird, so wichtig diese doppelte Herausforderung auch sein mag. Wir müssen aus diesen schmerzlichen Vorgängen in Klarheit und Verantwortungsbewusstsein die nötigen Lehren ziehen. Vor allem diese: Der Kern all der Katastrophen, die den Nahen Osten erschüttern, die Zivilbevölkerung immer dramatischer in Mitleidenschaft ziehen und zunehmend größere Gefahren für die internationale Sicherheit heraufbeschwören, bildet die anhaltende Besetzung der 1967 eroberten Gebiete und Israels hartnäckige Weigerung, den entsprechenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates Folge zu leisten.
Jedoch die Europäische Union hat gerade bei dieser für den Frieden entscheidenden Forderung in ihrem Druck nachgelassen. Wo sind ihre Initiativen zur Aktivierung der „Roadmap“ des Nahost-Quartetts? Was hat sie unternommen, um den Plan der Arabischen Liga von 2002 wieder ins Spiel zu bringen, der das Angebot enthielt, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren, wenn dieses einen palästinensischen Staat anerkennt? Was hat sie getan, um die Führer Israels zu bewegen, ihrer historischen Verantwortung endlich gerecht zu werden? Sie hat die Hilfe für die Palästinenserbehörden ausgesetzt, die demokratisch gewählte Regierung und das Parlament ihrer Legitimität beraubt, die mutigen Anstrengungen von Präsident Mahmud Abbas ignoriert, zu einer nationalen Verständigung zu kommen, und ohne weiteres die Schließung des einzigen Übergangs vom Gazastreifen zur Außenwelt hingenommen, den sie offiziell kontrolliert. Ich kann nur hoffen, die gemeinsamen Beschlüsse der letzten Tage mögen ein Zeichen dafür sein, dass Europa sich gegenüber dem ganzen Nahen Osten endlich in die richtige Position bringt.
Es ist an der Zeit, dass wir zwischen Bushs Konzept des „Krieges gegen den Terrorismus“ und der Rückkehr zu den Grundlagen des Völkerrechts eine klare Wahl treffen. Ich meine, das ist der Preis für einen gerechten und dauerhaften Frieden im Nahen Osten und zugleich für die Glaubwürdigkeit Europas in der Welt.
Ich danke Ihnen.