Auf Eis gelegt

Artikel in der Wochenzeitung „Freitag“, Nr. 23, vom 9. Juni 2006

Vor dem EU-Sondergipfel: Kommissionspräsident Barroso hat die EU-Verfassung längst abgehakt – die deutsche Regierung will wenigstens die Substanz erhalten*

In der nächsten Woche geht die „Denkpause“ zur Europäischen Verfassung offiziell zu Ende. Ein Gipfel der EU am 15./16. Juni in Brüssel soll entscheiden, wie weiter verfahren wird. Vorerst gibt es nur einen Stufenplan zu einer möglichen Verlängerung der „Reflexionsphase“. Vor genau einem Jahr war die Ratifizierung der Verfassung durch ablehnende Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Straucheln geraten. Inzwischen haben 15 Staaten der Verfassung durch Parlaments- oder Volksentscheide zugestimmt.

Es gehört zu den wenigen Gewissheiten der Verfassungskrise, dass Deutschland bei deren möglicher Lösung eine Schlüsselrolle spielt. Als turnusgemäßer EU-Ratsvorsitzender soll es im Juni 2007 dazu einen Vorschlag unterbreiten. Wie der aussehen könnte, ist vollends offen – zwar soll der Verfassungstext „substanziell“ erhalten bleiben, lässt die Bundesregierung wissen, unklar ist jedoch, welche Substanz wie zu wahren ist. Zudem wird in Frankreich, wo sich das Nein-Lager eher verfestigt, jedes Festhalten am Text weitgehend in Frage gestellt, weil dadurch eine Volksbefragung missachtet würde. Wie das Kaninchen auf die Schlage starren daher alle auf die französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2007, zumal Laurent Fabius, der sozialistische Kandidat in spe und prominenteste Nein-Sager, kürzlich anregte, zeitgleich mit den Europawahlen 2009 einen neuen Verfassungsgebenden Konvent zu wählen. Hingegen will Italiens neue Mitte-Links-Regierung Deutschland beistehen, wenn es gilt, die EU-Verfassung zu retten.

Das, was derzeit als Ratifizierungskrise daher kommt, ist jedoch in Wirklichkeit eine tiefe Sinn- und Zweckkrise der 25-Staaten-Union, die Folge einer seit Jahren mit Binnenmarkt, Währungsunion und Erweiterung forcierten neoliberalen Politik zu Lasten einer Bevölkerungsmehrheit. Deshalb bedarf es einer politischen Kurskorrektur, schließlich wollen die Menschen eine EU, die sie vor den negativen Folgen der Globalisierung schützt, die für Gerechtigkeit und Solidarität einsteht. Doch dieses Anliegen ist bei den meisten Regierungs-Granden offenbar nicht angekommen. Nur wenige reagieren mit klaren Botschaften wie Luxemburgs Premier Juncker, der jüngst wenigstens die Einführung eines Mindestlohns in allen EU-Staaten verlangte. Paris spricht lediglich von „Projekten“ für Bürgerinnen und Bürger zur Beschäftigung, Umwelt, Energie und Forschung, ohne dass bislang positive Ergebnisse vorliegen. Vielmehr sollte mit einem erst durch Massenproteste zu Fall gebrachten Berufseinsteigervertrag der neoliberale Kurs noch verschärft werden.

Mindestens im Koma
Die europäischen Eliten üben sich seit nunmehr einem Jahr in vielstimmigen Szenarien darüber, wie der Ratifizierungsprozess wieder ins Lot gebracht werden kann. Dazu gehört auch der Trick, den Verfassungsvertrag in einen Grundlagenvertrag herunterzustufen. Gleichzeitig setzt der neoliberale Mainstream alles daran, die Verfassung solange auf Eis zu legen, bis ihr Verbrauchsdatum abgelaufen ist und sie entsorgt werden kann. Der Verfassungsvertrag, so die Frankfurter Allgemeine vom 12. Mai, liege „mindestens im Koma, im Grunde ist er klinisch, also politisch tot“. In diesem Sinne hatte sich EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, einer der neoliberalen Frontleute in der EU, mit einer „Bürgernahen Agenda“ zur Zukunft Europas zu Wort gemeldet. Da sich zur Verfassung kein Einvernehmen abzeichne, gibt er zu verstehen, sollte man die geltenden Verträge – gemeint ist der Murksvertrag von Nizza – „wirkungsvoller ausschöpfen“. Schlitzohrig begründete Barroso seine Agenda damit, dass Bürgerinnen und Bürger nur durch „konkretes Handeln“ von Europa überzeugt werden könnten. Auch der britische Premier Blair, die erzkonservative polnische Regierung oder Tschechiens nationalkonservativer Präsident Vaclav Klaus – alle entschiedene Gegner der EU-Verfassung – möchten wie Frankreichs konservativer Präsidentschaftsanwärter Sarkozy den Nizza-Vertrag mit neuem Leben erfüllen. Das verwundert nicht, denn im Unterschied zur Verfassung, die die Sozialstaatlichkeit auf europäischer Ebene stärkt, bietet Nizza den Neoliberalen eine gute Handhabe, um auch die sensiblen Bereiche der öffentlichen Daseinsfürsorge dem freien Wettbewerb zu unterwerfen. Darüber hinaus setzt Sarkozy auf eine „Pioniergruppe“ williger EU-Staaten, um die zwischenstaatliche Kooperation vor allem im Rüstungsbereich, bei den Battle Groups und Militärmissionen voranzutreiben.

Ein „Nizza plus“
Tatsächlich verbirgt sich hinter Barrosos Zukunftsagenda, für die er den Sondergipfel gewinnen will, ein von der Verfassung abgekoppeltes Konzept zur Regelung institutioneller Fragen. Zustimmend kommentierte Die Welt vom 29. Mai, dass es keine neue Verfassung brauche, um Entscheidungsprozesse in der EU zu reformieren. Im Klartext läuft das auf ein „Nizza plus“ hinaus, und somit auf die Beibehaltung der bislang reinen Markt- und Wettbewerbsfixierung der EU. Damit verabschiedet sich die EU-Kommission de facto vom Verfassungsprozess. Überraschend ist das nicht, denn dieses Gremium hat sich bislang noch nie dezidiert für die Verfassung engagiert. Wie das Big Business bevorzugt es den selbstgesteuerten Binnenmarkt, den einst Margret Thatcher vorantrieb. Eine Verfassung, die auf Sozialpolitik, Sozialstandards und Vollbeschäftigung orientiert oder Tarifautonomie stärkt, stört dabei nur. Deutsche Bank, Europäische Zentralbank und andere neoliberale Vorreiter hatten gerade diese Verfassungsziele heftig attackiert. Sie wollen die EU als Freihandelszone de Luxe, die auf drei Säulen ruht: Deregulierung, Marktradikalismus und Wettbewerb.

Eigentlich müssten die lautstarken „Zurück-zu-Nizza“-Rufe der neoliberalen Überzeugungstäter für die Linken Veranlassung sein, gerade jetzt die Fortschritte der Verfassung zu verteidigen, anstatt sie als „alten, ungenießbaren Krempel“ abzutun. Doch das setzt allerdings eine sachliche Kontoverse voraus – und daran hapert es, wie auch die Debatte im Freitag belegt. Da waren fast alle Verfassungsgegner für ein Budgetrecht des Europaparlaments, doch keiner hielt es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass diese langjährige Forderung zur Beseitigung des EU-Demokratiedefizits in der Verfassung verankert ist. Vor allem aber sollten die Linken den um sich greifenden Avantgardismus rasch begraben, wenn sie am Bau des „Gemeinsamen Hauses Europa“ nachhaltig mitwirken wollen. Eine friedlich, sozial und demokratisch verfasste EU wird nur geschaffen, wenn sich darin mehr als 500 Millionen Menschen und mehr als 27 Staaten (hier sind die EU-Aspiranten Rumänien und Bulgarien schon einbezogen) in ihrer großen Vielfalt sowie weit mehr als 100 relevante politische Parteien wiederfinden – und das geht bestimmt nicht ohne einen Konsens, der für alle tragfähig sein muss.

* In der Freitag-Serie zu diesem Thema kommen seit geraumer Zeit Kritiker und Befürworter einer EU-Konstitution zu Wort.

Der Beitrag erschien leicht gekürzt in der Wochenzeitung „Freitag“, Nr. 23, vom 9. Juni 2006.

Vor dem EU-Sondergipfel: Kommissionspräsident Barroso hat die EU-Verfassung längst abgehakt – die deutsche Regierung will wenigstens die Substanz erhalten*

In der nächsten Woche geht die „Denkpause“ zur Europäischen Verfassung offiziell zu Ende. Ein Gipfel der EU am 15./16. Juni in Brüssel soll entscheiden, wie weiter verfahren wird. Vorerst gibt es nur einen Stufenplan zu einer möglichen Verlängerung der „Reflexionsphase“. Vor genau einem Jahr war die Ratifizierung der Verfassung durch ablehnende Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Straucheln geraten. Inzwischen haben 15 Staaten der Verfassung durch Parlaments- oder Volksentscheide zugestimmt.

Es gehört zu den wenigen Gewissheiten der Verfassungskrise, dass Deutschland bei deren möglicher Lösung eine Schlüsselrolle spielt. Als turnusgemäßer EU-Ratsvorsitzender soll es im Juni 2007 dazu einen Vorschlag unterbreiten. Wie der aussehen könnte, ist vollends offen – zwar soll der Verfassungstext „substanziell“ erhalten bleiben, lässt die Bundesregierung wissen, unklar ist jedoch, welche Substanz wie zu wahren ist. Zudem wird in Frankreich, wo sich das Nein-Lager eher verfestigt, jedes Festhalten am Text weitgehend in Frage gestellt, weil dadurch eine Volksbefragung missachtet würde. Wie das Kaninchen auf die Schlage starren daher alle auf die französischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2007, zumal Laurent Fabius, der sozialistische Kandidat in spe und prominenteste Nein-Sager, kürzlich anregte, zeitgleich mit den Europawahlen 2009 einen neuen Verfassungsgebenden Konvent zu wählen. Hingegen will Italiens neue Mitte-Links-Regierung Deutschland beistehen, wenn es gilt, die EU-Verfassung zu retten.

Das, was derzeit als Ratifizierungskrise daher kommt, ist jedoch in Wirklichkeit eine tiefe Sinn- und Zweckkrise der 25-Staaten-Union, die Folge einer seit Jahren mit Binnenmarkt, Währungsunion und Erweiterung forcierten neoliberalen Politik zu Lasten einer Bevölkerungsmehrheit. Deshalb bedarf es einer politischen Kurskorrektur, schließlich wollen die Menschen eine EU, die sie vor den negativen Folgen der Globalisierung schützt, die für Gerechtigkeit und Solidarität einsteht. Doch dieses Anliegen ist bei den meisten Regierungs-Granden offenbar nicht angekommen. Nur wenige reagieren mit klaren Botschaften wie Luxemburgs Premier Juncker, der jüngst wenigstens die Einführung eines Mindestlohns in allen EU-Staaten verlangte. Paris spricht lediglich von „Projekten“ für Bürgerinnen und Bürger zur Beschäftigung, Umwelt, Energie und Forschung, ohne dass bislang positive Ergebnisse vorliegen. Vielmehr sollte mit einem erst durch Massenproteste zu Fall gebrachten Berufseinsteigervertrag der neoliberale Kurs noch verschärft werden.

Mindestens im Koma

Die europäischen Eliten üben sich seit nunmehr einem Jahr in vielstimmigen Szenarien darüber, wie der Ratifizierungsprozess wieder ins Lot gebracht werden kann. Dazu gehört auch der Trick, den Verfassungsvertrag in einen Grundlagenvertrag herunterzustufen. Gleichzeitig setzt der neoliberale Mainstream alles daran, die Verfassung solange auf Eis zu legen, bis ihr Verbrauchsdatum abgelaufen ist und sie entsorgt werden kann. Der Verfassungsvertrag, so die Frankfurter Allgemeine vom 12. Mai, liege „mindestens im Koma, im Grunde ist er klinisch, also politisch tot“. In diesem Sinne hatte sich EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, einer der neoliberalen Frontleute in der EU, mit einer „Bürgernahen Agenda“ zur Zukunft Europas zu Wort gemeldet. Da sich zur Verfassung kein Einvernehmen abzeichne, gibt er zu verstehen, sollte man die geltenden Verträge – gemeint ist der Murksvertrag von Nizza – „wirkungsvoller ausschöpfen“. Schlitzohrig begründete Barroso seine Agenda damit, dass Bürgerinnen und Bürger nur durch „konkretes Handeln“ von Europa überzeugt werden könnten. Auch der britische Premier Blair, die erzkonservative polnische Regierung oder Tschechiens nationalkonservativer Präsident Vaclav Klaus – alle entschiedene Gegner der EU-Verfassung – möchten wie Frankreichs konservativer Präsidentschaftsanwärter Sarkozy den Nizza-Vertrag mit neuem Leben erfüllen. Das verwundert nicht, denn im Unterschied zur Verfassung, die die Sozialstaatlichkeit auf europäischer Ebene stärkt, bietet Nizza den Neoliberalen eine gute Handhabe, um auch die sensiblen Bereiche der öffentlichen Daseinsfürsorge dem freien Wettbewerb zu unterwerfen. Darüber hinaus setzt Sarkozy auf eine „Pioniergruppe“ williger EU-Staaten, um die zwischenstaatliche Kooperation vor allem im Rüstungsbereich, bei den Battle Groups und Militärmissionen voranzutreiben.

Ein „Nizza plus“

Tatsächlich verbirgt sich hinter Barrosos Zukunftsagenda, für die er den Sondergipfel gewinnen will, ein von der Verfassung abgekoppeltes Konzept zur Regelung institutioneller Fragen. Zustimmend kommentierte Die Welt vom 29. Mai, dass es keine neue Verfassung brauche, um Entscheidungsprozesse in der EU zu reformieren. Im Klartext läuft das auf ein „Nizza plus“ hinaus, und somit auf die Beibehaltung der bislang reinen Markt- und Wettbewerbsfixierung der EU. Damit verabschiedet sich die EU-Kommission de facto vom Verfassungsprozess. Überraschend ist das nicht, denn dieses Gremium hat sich bislang noch nie dezidiert für die Verfassung engagiert. Wie das Big Business bevorzugt es den selbstgesteuerten Binnenmarkt, den einst Margret Thatcher vorantrieb. Eine Verfassung, die auf Sozialpolitik, Sozialstandards und Vollbeschäftigung orientiert oder Tarifautonomie stärkt, stört dabei nur. Deutsche Bank, Europäische Zentralbank und andere neoliberale Vorreiter hatten gerade diese Verfassungsziele heftig attackiert. Sie wollen die EU als Freihandelszone de Luxe, die auf drei Säulen ruht: Deregulierung, Marktradikalismus und Wettbewerb.

Eigentlich müssten die lautstarken „Zurück-zu-Nizza“-Rufe der neoliberalen Überzeugungstäter für die Linken Veranlassung sein, gerade jetzt die Fortschritte der Verfassung zu verteidigen, anstatt sie als „alten, ungenießbaren Krempel“ abzutun. Doch das setzt allerdings eine sachliche Kontoverse voraus – und daran hapert es, wie auch die Debatte im Freitag belegt. Da waren fast alle Verfassungsgegner für ein Budgetrecht des Europaparlaments, doch keiner hielt es für notwendig, darauf hinzuweisen, dass diese langjährige Forderung zur Beseitigung des EU-Demokratiedefizits in der Verfassung verankert ist. Vor allem aber sollten die Linken den um sich greifenden Avantgardismus rasch begraben, wenn sie am Bau des „Gemeinsamen Hauses Europa“ nachhaltig mitwirken wollen. Eine friedlich, sozial und demokratisch verfasste EU wird nur geschaffen, wenn sich darin mehr als 500 Millionen Menschen und mehr als 27 Staaten (hier sind die EU-Aspiranten Rumänien und Bulgarien schon einbezogen) in ihrer großen Vielfalt sowie weit mehr als 100 relevante politische Parteien wiederfinden – und das geht bestimmt nicht ohne einen Konsens, der für alle tragfähig sein muss.

* In der Freitag-Serie zu diesem Thema kommen seit geraumer Zeit Kritiker und Befürworter einer EU-Konstitution zu Wort.

Der Beitrag erschien leicht gekürzt in der Wochenzeitung „Freitag“, Nr. 23, vom 9. Juni 2006.