Gegen einen Orwellschen Überwachungsstaat

Rede vor dem Europäischen Parlament während der Aussprache zur Vorratsdatenspeicherung von Daten bei der Bereitstellung öffentlicher elektronischer Kommunikationsdienste (Alvaro-Bericht A6-0365/2005)

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,

was sich in den letzten Wochen zum Thema Vorratsdatenspeicherung abgespielt hat, ist schlichtweg ungeheuerlich. Dieses Haus ist seit Vorlage des Kommissionsvorschlags unter außerordentlichen Zeitdruck gestellt worden. Von Anfang an galt die Prämisse, das Vorhaben ‚auf Teufel komm raus‘ bis zum Jahresende durchzuziehen. Eine wirklich seriöse umfassende Bearbeitung des Kommissionsvorschlags war allein schon deshalb kaum leistbar. Und ich füge hinzu: sie war ganz offensichtlich auch nicht gewollt. Dies dokumentiert sich für mich auch darin, dass wir morgen im Kern nicht mehr über den Bericht des Innenausschusses abstimmen, sondern letztlich nur noch abnicken sollen, was der Rat Anfang Dezember beschlossen hat. Ich will hier deutlich sagen: für mich als Schattenberichterstatterin meiner Fraktion ist schlicht inakzeptabel, dass die beiden großen Fraktionen unter Missachtung des Votums des Ausschusses und gezielt hinter dem Rücken des Berichterstatters mit dem Rat gekungelt haben. Der „Kompromiss“, den die EVP-Fraktion und die SPE-Fraktion mit dem Rat ausgehandelt haben, ist nicht nur faul, er stinkt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Fraktion lehnt den Kommissionsvorschlag klipp und klar ab. Ich habe deshalb bereits im Ausschuss gemeinsam mit Kollegin Buitenweg von den Grünen ein Minderheitenvotum eingereicht und für morgen den Antrag auf Zurückweisung des Kommissionsvorschlags gestellt. Und ich will ihnen sagen warum:
Die Einführung der Pflicht zur systematischen und anlassunabhängigen Datenspeicherung stellt einen Dammbruch zu Lasten des Datenschutzes unverdächtiger Bürgerinnen und Bürger dar. Der Kommissionsvorschlag läuft im Kern darauf hinaus, 460 Millionen Bürgerinnen und Bürger der EU unter Generalverdacht zu stellen. Die geplante Vorratsdatenspeicherung ist mit eklatanten Eingriffen in die Grundrechte und Freiheiten der Europäerinnen und Europäer verbunden. Das Fernmeldegeheimnis und der garantierte Schutz der Privatsphäre drohen unverhältnismäßig eingeschränkt und in ihrem Wesensgehalt verletzt zu werden. Die Pressefreiheit, insbesondere der Quellen- und Informantenschutz, werden aufs Spiel gesetzt. Ich bezweifle, und das sage ich vor allem an die Adresse der deutschen Kollegen, dass all dies vor dem deutschen Grundgesetz Bestand hat.

Bis heute sind Ziel und Zweck der Maßnahme unklar. Bis heute wurde keinerlei Nachweis dafür vorgelegt, dass schwere Straftaten durch die Vorratsspeicherung einer Unmenge verschiedenster Kommunikationsdaten tatsächlich erfolgreicher aufgeklärt werden können. Selbstverständlich müssen den Strafverfolgungsbehörden die Instrumentarien an die Hand gegeben werden, die es ihnen ermöglichen, Terrorismus und schwere Kriminalität zu bekämpfen. Doch das rechtfertigt nicht, immer wahlloser – ohne Rücksicht auf die Rechte des Einzelnen und ohne zwingende Notwendigkeit – Daten und Informationen zu sammeln, zu verlinken und auszutauschen, bis in naher Zukunft der „gläserne Bürger“ existiert!

Soll denn unser Europa wirklich zu einem Überwachungsstaat à la Orwell werden? Nein, ich will das nicht. Und gerade als Abgeordnete, die aus dem Osten Deutschlands kommt, will ich es nicht. Ein Generalverdacht gegen die Bürgerinnen und Bürger verbunden mit einer Sammelwut von Daten und Informationen, die Polizei und auch Geheimdiensten jederzeit zur Verfügung stehen, genau ein solches politisches Denken wurde von den Menschen einst, und zwar mit Recht, wegdemonstriert. Und das war auch gut so!