„Die EU setzt immer weiter auf Abschottung“, Interview mit Tobias Pflüger (MdEP) im Schwäbischen Tagblatt Anzeiger, am 21. September 2005
Der Flüchtlingsstrom auf die italienische Insel Lampedusa reißt nicht ab. Viele ertrinken im Mittelmeer, und wer es bis ins Lager schafft, findet katastrophale Zustände vor. Wir sprachen mit dem parteilosen Tübinger Europaabgeordneten Tobias Pflüger, der für die PDS im europäischen Parlament sitzt.
TAGBLATT ANZEIGER: Herr Pflüger, Sie waren im Juni auf Lampedusa. Wie war die Situation?
Tobias Pflüger: Kurz vor Ankunft unserer Delegation der Linksfraktion des EU-Parlaments (GUE/NGL) wurden mehr als 800 (!) Flüchtlinge in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus dem Internierungslager in andere italienische Flüchtlingslager verschoben oder nach Nordafrika abgeschoben. Offensichtlich wurde das Lager für den Besuch gesäubert und präpariert. Es ging den Verantwortlichen nur darum, einen möglichst günstigen Eindruck zu erwecken. Das Lager ist sechsfach überbelegt. Die Menschen, mit denen ich dort gesprochen habe, sind Iraker, Palästinenser, Kurden und Marokkaner; Menschen, in deren Ländern Bürgerkrieg herrscht, und in denen politische Verfolgung an der Tagesordnung ist. Dass sie dort in diesem Lagereingesperrt werden, ist eine so eklatante Verletzung ihrer Rechte, aber auch ihrer Menschenwürde, dass einem der Atem stockt. Nicht einmal genug Decken sind für alle da. Viele müssen im Freien auf dem Boden schlafen.
Warum klappt die Eindämmung der Flüchtlingswelle nicht?
Die EU setzt immer weiter auf Abschottung. Mit immer höheren Mauern und immer perfiderer Abschreckung sowie einem immer früheren Abfangen der Flüchtenden will man die Menschen fern halten. Dadurch aber gefährdet man das Leben von Flüchtlingen und treibt einen Großteil in die Illegalität. Dann sind die Flüchtlinge gewissenlosen Ausbeutern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Es gibt kein wirkliches Interesse zwischen Nord und Süd, mehr soziale Gleichheit zu schaffen. Es müssen die Fluchtursachen – Armut und Verfolgung – bekämpft werden, nicht die Flüchtlinge.
Was sollte die EU tun?
Die EU sollte endlich zu einer menschenrechtlich begründeten Asyl- und Migrationspolitik kommen und nicht auf ein italienisch-deutsch-libysches Lagersystem setzen.
Vereinbart sich die Abschiebung nach Nordafrika mit der Flüchtlingskonvention?
Nein, das ist ein eklatanter Verstoß dagegen, auch vom UN Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) angeprangert. In den exterritorialen Lagern haben die Flüchtlinge entgegen der UN-Flüchtlingskonvention keinen Rechtsbeistand und können die ablehnenden Bescheide nicht überprüfen lassen.
Es gibt aber auch Gewinner des Flüchtlingsstroms …
… Ja, die Abschottungsmaßnahmen der EU können geradezu als Subvention für die „Fluchthelfer“ angesehen werden. Hier gilt schlicht das Prinzip von Angebot und Nachfrage in einem speziellen Marktsegment. Wo entsprechende Profite winken, geht man auch über Leichen. Das Problem ist, dass die EU durch ihre Politik die Gewinnmargen nach oben treibt und die Flüchtlinge dazu bringt, sich auf immer gefährlichere Situationen einzulassen.
Interview: Manfred Hantke