Höhlt die EU das Asylrecht aus?, Interview in Neues Deutschland, 30. Juni 2005 Tobias Pflüger zu den Menschenrechten im Flüchtlingslager Lampedusa

Sie haben am Dienstag das Flüchtlingslager in Lampedusa besucht. Wie war Ihr Eindruck?

Wir haben im Grunde genommen eine völlig skurrile Situation erlebt. Bevor die Delegation aus zwölf Europaparlamentariern nach Lampedusa in das Abschiebelager gekommen ist, haben die Verantwortlichen rund 800 bis 900 Leute aus dem Lager abgeschoben. Als wir aufgetaucht sind, waren nur noch 190 Menschen dort, was der offiziellen Kapazität entspricht – die Woche zuvor sollen es noch über 1000 gewesen sein.

Wohin wurde der Rest gebracht?

Sie wurden offensichtlich in andere italienische Lager verlegt oder nach Libyen abgeschoben und es verblieben nur die Marokkaner, die Iraker und die Palästinenser.

War es dann überhaupt möglich, sich einen realistischen Eindruck über die Zustände im Lager zu machen?

Das war dennoch möglich, auch wenn das Lager extra vorher gesäubert und alle Häuser und Unterkünfte geputzt wurden. Es ist ein sehr, sehr niedriger Standard.
Ein Großteil der Menschen musste auf dem freien Boden zum Teil ohne Decken schlafen. Die Sanitäreinrichtungen sind völlig unzureichend. Das Lager befindet sich direkt am Flugplatz, weil so besser abgeschoben werden kann. Aber das bedeutet gleichzeitig einen enormen Lärm. Es sind völlig unmenschliche und inakzeptable Bedingungen, die klar den Genfer Flüchtlingskonventionen widersprechen.

Wie viele Flüchtlinge kommen denn im Schnitt so an? Gibt es Zahlen?

Wir haben versucht, diese Zahlen herauszubekommen. Von den Offiziellen, mit denen wir gesprochen haben, werden keine konkreten Zahlen genannt. Hilfsorganisationen oder Gruppen, die sich um die Flüchtlinge kümmern, nennen
Zahlen. Demnach kommen zum Teil in einzelnen Wochen dreistellige Zahlen von Flüchtlingen an, insbesondere in den Sommermonaten. Die italienische Lagerverwaltung macht es wohl so, dass sie von da aus die Flüchtlinge relativ schnell weiterverteilen lässt oder direkt ohne Prüfung abschiebt.

Auf welcher Grundlage?

Es gibt das so genannte Geheimabkommen zwischen Italien und Libyen und nun frisch auch zwischen der EU und Libyen , worin sich Libyen bereit erklärt hat, die Flüchtlinge wieder aufzunehmen. Flüchtlinge werden abgeschoben, ohne dass eine Asylantragsprüfung überhaupt stattfindet.

Es findet keine Asylantragsüberprüfung statt, obwohl das Italien beim letzten EU-Innenministerratstreffen zugesagt hat?

Richtig. Der verantwortliche Polizeioffizier sagte, es gäbe gar keine Asylanträge. Selbstverständlich werden die Leute Asyl beantragen wollen, aber offensichtlich
wird ihnen gar nicht die Gelegenheit dazu gegeben.

Ist denn etwas über die Aufnahmepraxis in Libyen
bekannt?

Das war eine unserer Fragen. Wir haben dazu keine Antwort bekommen. In der Fraktion habe ich den Vorschlag gemacht, dass wir als nächstes auch in Libyen versuchen müssen, die dortigen mit EU-Hilfe gebauten Lager zu inspizieren,
weil es ganz offensichtlich so ist, dass da völlig im rechtsfreien Raum agiert wird.

Das Asylrecht in der EU wird also immer mehr ausgehöhlt?

Genau. Es ist so, dass nicht mal die Grundstandards der Genfer Flüchtlingskonventionen in Lampedusa eingehalten werden. Ich befürchte, dass exterritoriale Lager, wie vom deutschen Innenminister Otto Schily angedacht, künftig zur allgemeinen EU- Praxis werden . Diese Lager müssen alle geschlossen werden. Und es muss die Frage gestellt werden, warum die Menschen eigentlich fliehen.

Fragen: Martin Ling