Neoliberale Offensive in der EU entschieden bekämpfen

Rede von Sylvia-Yvonne Kaufmann auf der 1. Tagung des 9. Landesparteitages 2005 in Chemnitz

Liebe Genossinnen und Genossen, werte Gäste,
Rico Gebhardt hat soeben über die Wahlkämpfe im Jahr 2009 gesprochen. Dazu ist zu ergänzen, dass wir nicht nur Landtags- und Bundestagswahlen haben werden. Im Juni 2009, und zwar vor den Bundestagswahlen, finden auch die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. Es ist schwerlich möglich vorherzusagen, wie die Lage der Europäischen Union in drei ein halb Jahren sein wird.

Derzeit befindet sich die EU in einer Krise. Die Europäische Union befindet sich in der schwersten Krise seit ihrer Existenz – und niemand kann heute sagen, wie und wann sie enden wird. Wir als Linke sollten darüber jedoch durchaus nicht erfreut sein, denn die Leittragenden sind letztlich die sozial Schwachen und die Armen in allen europäischen Gesellschaften, im Westen wie im Osten Europas. Verantwortlich dafür sind die neoliberale Politik der Herrschenden und als deren Folge die völlig unzureichend entwickelte soziale Dimension der Europäischen Union. Mit Euro, Stabilitätspakt und Defizitkriterien erscheint sie in den Augen der Menschen in erster Linie als ein Entwurf für Banken und Multis. Die Union hat sich zunehmend von ihren Bürgerinnen und Bürgern entfernt – und dieser Graben zwischen europäischer Politik und den Sorgen und Nöten der Menschen, die sie tagtäglich umtreiben, ist riesengroß. In fast allen EU-Mitgliedstaaten prägen Arbeitslosigkeit, Chancenlosigkeit für viele und Zukunftsängste das gesellschaftliche Leben. Letztlich waren das die maßgeblichen Gründe, weshalb die Europäische Verfassung in Frankreich und in den Niederlanden scheiterte. Wie und wann die Verfassungskrise überwunden wird, steht in den Sternen. Auch die europäischen Linksparteien haben darauf noch keine konkrete Antwort. Drücken können wir uns davor allerdings nicht mehr lange.

Über die vorläufige Blockade der EU-Verfassung frohlocken jedenfalls die neoliberalen Protagonisten in Europa, denen mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit in der Europäischen Union seit eh und je ein Dorn im Auge sind. Das Nein aus Frankreich und aus den Niederlanden zur EU-Verfassung betrachten viele von ihnen als regelrechten Glücksfall. So erklärte Hans-Werner Sinn, Chef des einflussreichen Münchner Ifo-Instituts, man könne „von Glück sagen, dass wir nun die Gelegenheit erhalten, die Verfassung noch einmal zu diskutieren und dann auch zu verändern“. Denn die Verfassung bringe neben einer Wirtschafts- und Währungsunion auch eine „Sozialunion für Europa“, und die, so sinnierte Herr Sinn in der Zeitung „Die Welt“ mit Blick auf die in der Verfassung verankerten sozialen Rechte „können wir überhaupt nicht gebrauchen“.

Allen voran jubelt die Blair-Regierung in Großbritannien, die wie ihre Vorgängerinnen für die EU die Zukunftsvision einer Freihandelszone mit beschränkter sozialer Haftung favorisiert und bekanntlich auf ein Vasallenbündnis mit den USA setzt. Und Kanzlerin Merkel? Sie versteht sich gut mit Tony, dem Meister neoliberaler Politik in Europa. In Sachsens unmittelbarer Nachbarschaft, in Polen, haben wir es jetzt mit einem Präsidenten und einer Regierung zu tun, die das französische Nein zur Verfassung für ihre egoistischen Zwecke zu missbrauchen versuchen. Und im anderen Nachbarland Sachsens, in Tschechien? Dort lacht sich Präsident Klaus ins Fäustchen, denn seine nationalistisch motivierte Anti-EU-Kampagne erhielt aus Paris und Amsterdam kräftig Aufwind.

Die Vorreiter neoliberaler Politik haben einen umfangreichen Katalog europäischer Rechtsakte auf den Weg gebracht, um im Zuge der begonnenen Debatte über das weitere Vorgehen zur Verfassung den Gesetzen des freien Markts möglichst ungebremst zum Durchbruch zu verhelfen. Die Stichworte sind: Arbeitszeitrichtlinie, die Neuauflage der Richtlinie für Hafendienstleistungen, und natürlich vor allem die Dienstleistungsrichtlinie. Sie ist derzeit zweifellos das Hauptkampffeld auch unserer linken Fraktion im Europaparlament. Die Abgeordneten unserer Gruppe haben dazu eine umfassende Informationsarbeit geleistet, sei es über unsere Internetseite oder unsere Info-Broschüren und Flyer, mit Pressekonferenzen und Meetings.

Diese Woche stimmte der federführende Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments über die Dienstleistungsrichtlinie ab, und der Ausgang der Abstimmung hat bestätigt, was sich schon seit längerem abzeichnete. Konservative und Liberale setzen alles daran, um den Kommissionsentwurf mit möglichst wenigen Änderungen durchzupeitschen. Insbesondere das Herkunftslandprinzip, das Lohn- und Sozialdumping Tür und Tor öffnen soll, wird mit aller Macht verteidigt, zum Teil leider auch unterstützt durch Abgeordnete der Sozialdemokratischen Fraktion. Nach dem französischen Verfassungsreferendum hatten Schröder und Chirac die Bolkestein-Richtlinie öffentlichkeitswirksam kritisiert, jüngst auch Österreichs Bundeskanzler Schüssel. Doch dies erwies sich bislang nur als wohlfeile Rhetorik. Bei uns im Parlament, da spielt die Musik neoliberaler Gesetzgebung munter weiter.

Die Zeit drängt, Genossinnen und Genossen. Im Januar wird bei uns in 1. Lesung abgestimmt, und wir müssen gemeinsam alles daran setzen, um dieses Vorhaben doch noch zu kippen. Deshalb möchte ich Euch alle aufrufen, auch hier in Sachsen den Widerstand gegen die Bolkestein-Richtlinie deutlich zu verstärken.

Wir haben viele Verbündete in dieser Frage, bei den Gewerkschaften, bei Attac und sozialen Bewegungen. Aber jetzt kommt es darauf an, den Widerstand zielgerichtet mit Blick auf Januar deutlich zu mobilisieren! Und Genossinnen und Genossen, noch etwas müssen wir tun. Der neuen großen Koalition dürfen keine 100 Tage Schonfrist eingeräumt werden. Als linke Opposition müssen wir Merkel und Platzeck mit ihrem eigenen Koalitionsvertrag auf die Finger klopfen. Schließlich haben Rot und Schwarz darin den Richtlinienentwurf der EU-Kommission sogar selbst kritisiert und sich für seine sozial ausgewogene Überarbeitung ausgesprochen. Deshalb sage ich: Nehmen wir sie beim Wort. Wir wollen entsprechende Taten sehen, und zwar sofort. Nehmt die sächsischen Europaabgeordneten von SPD und CDU in die Pflicht. Selbstverständlich müssen wir auch die Landesregierung unter Druck setzen. Sie muss Farbe bekennen. Ich finde, es wäre nicht zu viel verlangt, besonders von der CDU Sachsens zu fordern, dass sie im Bundesrat den Antrag des CDU-geführten Hessen unterstützt. Denn wenn selbst Ministerpräsident Koch entdeckt, dass die Dienstleistungs-Richtlinie zu Recht unter massiver Kritik steht, dann müsste das doch eigentlich auch Herr Milbradt erkennen.

Liebe Genossinnen und Genossen,
noch einige wenige Sätze zu einem ganz anderen Thema. Ich schlage mich im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Inneres und Justiz seit Monaten mit dem Thema Vorratsdatenspeicherung herum. Und ich kann Euch nur sagen: Was hier unter dem Denkmantel der Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität daher kommt, muss alle Alarmglocken läuten lassen. Wenn Rat und EU-Kommission mit ihren Vorschlägen durchkommen, und das ist nicht auszuschließen, dann werden wir in allen Mitgliedstaaten der EU einen massiven Eingriff in die Bürgerrechte erleben. Orwell lässt grüßen. Millionen und Abermillionen von Telefon-, Internet- und anderen Kommunikationsdaten sollen erfasst und monatelang für Ermittlungszwecke gespeichert werden. Im Grunde werden alle EU-Bürgerinnen und -Bürger erst einmal unter den Generalverdacht der Verbrechensbegehung gestellt. Datenschutz und Datensicherheit spielen nur noch am Rande eine Rolle. Hauptsache, Polizei und andere einschlägige Behörden können jederzeit wissen, wer wann mit wem telefoniert hat oder eine SMS verschickte. Als Verantwortliche unserer Fraktion habe ich dazu am Freitag in Brüssel im zuständigen Parlamentsausschuss ein Minderheitenvotum eingereicht. Denn ich finde: Die Bürgerrechte dürfen keinesfalls zur Disposition gestellt werden – und dafür tragen gerade wir Linken eine besondere Verantwortung.

Liebe Genossinnen und Genossen,
es ist so einfach wie wahr: Europa ist nicht weit weg. Es ist permanent präsent in unser aller Alltagsleben. Ich freue mich, dass wir jetzt eine starke linke Fraktion im Bundestag haben. Ich freue mich besonders auf die Zusammenarbeit mit den Abgeordneten unserer Landesgruppe Sachsen, und ich setze darauf, dass wir so eng wie möglich zusammenarbeiten. Es gibt sehr viel zu tun, um Sachsen, Deutschland und Europa zu verändern. Lasst es uns gemeinsam anpacken. In diesem Sinne wünsche ich Eurem Parteitag viel Erfolg.