Linke Politik in der heutigen Gesellschaft

Rede auf der Konferenz der GUE/NGL zum 60. Jahrestag des Sieges über Faschismus und Nazismus in Prag

Liebe Genossinnen und Genossen,

zunächst möchte ich mich im Namen der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke ganz herzlich für die Einladung dieser von uns gemeinsam durchgeführten Veranstaltung bedanken. Vielleicht können einige von Euch mit dem Begriff GUE/NGL nicht so viel anfangen. Deshalb möchte ich unsere Fraktion zu Beginn kurz vorstellen.

Unsere Fraktion besteht aus 41 Abgeordneten aus 13 Ländern und repräsentiert 16 Parteien. Wir sind damit die fünftstärkste Fraktion im Europäischen Parlament. Wir sind ein Zusammenschluss linker Parteien, die sich historisch sehr unterschiedlich gegründet und entwickelt haben. Aus diesem Grunde nehmen wir auch unterschiedliche gesellschaftspolitische Schwerpunktsetzungen vor. Einige dieser linken Parteien haben eine fast hundertjährige Tradition, haben während des Faschismus im aktiven Widerstand gestanden. Andere haben ihre leidvollen Erfahrungen in der Illegalität während faschistischer oder militärischer Diktaturen erfahren. Dritte sind aus der linken Umweltbewegung hervorgegangen. Einige sind staatstragende Parteien der früheren sozialistischen Länder gewesen, die meisten aber immer in der Opposition gewesen. Eine Partei ist heute Regierungspartei eines Staates, andere stellen Mitglieder von Regional- oder Länderregierungen. Aus dieser Unterschiedlichkeit heraus werden auch historische Vorgänge und Prinzipien different bewertet: die Rolle der Sowjetunion, die Situation im heutigen China, die Anwendung des Prinzips des demokratischen Zentralismus, der Umgang mit Kritikern der herrschenden Eliten, etc. Zusätzlich gibt es auch sehr verschiedene Auffassungen zur europäischen Integration, zur EU-Erweiterung und auch in konkreten politischen Feldern, wie z.B. in der Energiepolitik, der Genmanipulation, der Industriepolitik, der Notwendigkeit der Einführung höherer Umweltauflagen.

Trotz dieser nicht zu negierenden Unterschiede arbeiten wir als linke Fraktion im Europäischen Parlament gemeinsam, da es auch ein einigendes Band gibt. Dieses stellt die Prämisse in unserem Zusammenwirken dar. Wir als Fraktion wenden uns gegen jegliche Führung von Politik mit militärischen Mitteln. Wir sind die Fraktion, die für die Entmilitarisierung der Europäischen Union steht. Wir treten gemeinsam vehement gegen jede Art des Sozialabbaus innerhalb der Mitgliedstaaten und in der Europäischen Union auf. Wir sind diejenigen, die dem neoliberalen Wirtschaftsdenken ein klares Nein entgegensetzen. Wir stehen für eine Demokratisierung der Europäischen Union auf allen Ebenen. Aus all diesen Gründen wenden wir uns als einzige Fraktion entschlossen und konsequent gegen den europäischen Verfassungsvertrag, und wir hoffen natürlich alle gemeinsam – und bemühen uns, unseren Anteil dazu zu leisten – dass die Gegner der Verfassung beim Referendum in Frankreich am 29. Mai den Sieg davontragen. Wir sind die Fraktion, die eine Resolution des Europäischen Parlaments zum Umgang mit Gedenkstätten gegen den Faschismus initiiert hat und aus Anlass des 10. Jahrestages dieser Entschließung im Europäischen Parlament eine viel beachtete Ausstellung zu KZ-Gedenkstätten in Europa veranstaltet hat. Wir sind der Ansprechpartner für europäische Gewerkschaften und Betriebsräte, wenn sie sich gegen die Auslagerung von Arbeitsplätzen aus ihren Ländern wenden, wir unterstützen Streiks von Beschäftigten innerhalb des Europäischen Parlaments. Wir treten als Mitorganisatoren von Demonstrationen auf, laden Vertreter von globalisierungskritischen Organisationen zur Debatte ins Europäische Parlament ein, sind Mitorganisatoren eines internationalen parlamentarischen Netzwerkes gegen das Agieren der WTO. Wir haben gute Verbindungen zum Foro Sao Paolo, beteiligen uns aktiv am Weltsozialforum und am Europäischen Sozialforum, wir gelten als Verfechter der Interessen der palästinensischen, kurdischen, venezolanischen Bevölkerung und aller Völker, die für Gleichberechtigung und Freiheit kämpfen. Wir sind, kurz gesagt, das linke politische Zentrum der parlamentarischen Arbeit in der Europäischen Union.

Die Mitgliedsparteien in der GUE/NGL sind in unterschiedlichen politischen Zusammenschlüssen und Vereinigungen aktiv. Eine Großzahl ist Mitglied der Partei der Europäischen Linken, andere engagieren sich in der europäischen antikapitalistischen Linken, in der Nordischen Allianz, im Neuen Europäischen Linken Forum, in der Ost-West-Konferenz. Einige sind auch gleichzeitig in mehreren der genannten Formationen integriert. Das Zusammenwirken dieser Fraktion zeigt, dass es möglich ist, Differenzen hinten anzustellen, das Gemeinsame zu artikulieren, ohne dass einer den anderen in eine Zwangssituation bringt; dass es möglich ist, gemeinsam gegen den politischen Kontrahenten vorzugehen und sich nicht untereinander zu zerstreiten; dass es möglich ist, Parlamentarismus mit außerparlamentarischen Aktivitäten zu verbinden, Zugang zu anderen gesellschaftskritischen Verbänden und Vereinen zu bekommen, weltweite Netzwerke aufzubauen, insbesondere im Kampf gegen die neoliberale Globalisierung.

Ich möchte jetzt einige Gedanken zum Thema „Kampf für sozialistische Ideen in der heutigen Gesellschaft“ äußern.

Die sozialistische Staatengemeinschaft in Europa gründete sich, mit Ausnahme der Sowjetunion, als Ergebnis des antifaschistischen Befreiungskampfes gegen den imperialistischen Eroberungskrieg seitens Deutschlands. Da die Sowjetunion den größten Anteil an der Befreiung von diesem barbarischen System hatte, war es auch folgerichtig, dass in Folge des veränderten Kräfteverhältnisses in den durch die Rote Armee befreiten Ländern Mittel- und Osteuropas volksdemokratische Revolutionen den Weg zu einer sozialistischen Entwicklung nach sowjetischem Vorbild ebneten, während sich die Staaten Westeuropa, mit Ausnahme Frankreichs, stärker um die USA scharten.

Unter dem unbestreitbar dominierenden Einfluss Moskaus wurde das sowjetische Modell mit all seinen Fehlern und Schwächen Grundlage der Entwicklung der späteren sozialistischen Staaten, wobei die Entwicklung durch zwei Komponenten geprägt war. Erstens: durch die relative Gleichartigkeit der gesellschaftlichen Systeme einerseits, auch wenn sich im Verlaufe der Geschichte Unterschiede zwischen den Ländern herausbildeten, und zweitens durch den kalten Krieg, der die Systemauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus unmittelbar beinhaltete. In dem Maße, in dem der Protagonist Sowjetunion als Hauptstützpfeiler des Sozialismus wegbrach, verloren auch die anderen sozialistischen Länder die politische Basis zur Fortsetzung des Aufbaus des Sozialismus.

Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes veränderte sich auch das Kräfteverhältnis genereller Natur derart, dass für soziale, demokratische, umweltschonende, verbraucherfreundliche Erneuerung kein Raum mehr blieb. Der neoliberale Umbau des Gemeinwesens und die Umverteilung von unten nach oben wurden zum gesellschaftlichen Alltag. Die gesellschaftlichen und politischen Gegenkräfte wurden dramatisch geschwächt und die demokratischen und politischen Beschränkungen für die Entfesselung der Großunternehmen und Oligarchien weltweit abgebaut. Der Anfang der 90er Jahre vorgenommene Sozialabbau in allen ehemaligen sozialistischen Ländern mündet mittlerweile in die Zerstörung des Sozialstaates. Die unter kapitalistischen Bedingungen geprägte und praktizierte soziale Marktwirtschaft ist von der Marktgesellschaft abgelöst worden, weshalb auch in dem jetzt vorgeschlagenen Vertrag über eine Europäische Verfassung in Teil III nur noch von einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb gesprochen wird.

Die Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik der heutigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, den dramatischen Abbau sozialer Rechte und sozialer Sicherungssysteme kann man nicht als Reform bezeichnen, sondern muss sie als Systemwechsel charakterisieren. Im Zuge dieser Politik der Europäischen Union, aber auch anderer Organisationen wie der WTO, kommt es immer mehr zu einer Selbstentmachtung der Politik, des Staates und der Demokratie, und auch des verfassungsrechtlich garantierten Souveräns – der Bürgerinnen und Bürger – gegenüber der weltweit durchgesetzten liberalen Globalisierung der großen Wirtschaftsakteure. Begleitet wird diese Entwicklung von einschneidenden Einschränkungen der Bürgerrechte wie beispielsweise bei der Datensicherheit und beim Asyl- und Flüchtlingsrecht, von einer zunehmenden völkerrechtswidrigen militärischen Außenpolitik, die im Gewand der humanitären Notwendigkeit daherkommt, wie es im Jugoslawienkrieg oder im so genannten Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan oder Irak der Fall war und ist. Die Daten in den Armutsberichten der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zeigen, dass sich die soziale Spaltung in den letzten 6 Jahren verschärft hat, dass soziale Ausgrenzung und Armut gestiegen sind und auf der anderen Seite die Anzahl der Reichen zugenommen hat. Fast 25 Millionen Menschen sind in Europa aus der Erwerbstätigkeit verdrängt. Das Missverhältnis zwischen vermögenden und armen Haushalten nimmt zu. Die Folgen dessen sind, dass Arme früher sterben und mangelnde Bildungschancen vererbt werden. Die geistige und kulturelle Dominanz des Neoliberalismus nimmt zu. Begründet wird diese neue Qualität der sozialen Spaltung mit der schwachen Konjunktur und hoher Arbeitslosigkeit, so als ob dies naturgegeben und nicht durch die Politik verursacht wäre. Wenn die Wohlhabenden dank der Steuerpolitik immer wohlhabender werden, während die Belastungen bei den Durchschnittsverdienern immer höher werden und die Realeinkommen sinken, kann die Binnennachfrage nicht steigen – was im Übrigen auch die aktuellen Zahlen belegen. Die hohen Lohnnebenkosten sind nicht das ökonomische Problem, da die Lohnstückkosten dank hoher Produktivität nach wie vor im Sinken begriffen sind. Das Problem ist die nicht vorhandene Kaufkraft der Bevölkerung durch die Verringerung der Realeinkommen, die meistens hervorgerufen wird durch eine Verlängerung der Arbeitszeit ohne äquivalenten Lohnausgleich, durch das dramatische Zurückschrauben der Investitionsquote seitens der öffentlichen Hand, sowie die nicht getätigten Erweiterungsinvestitionen innerhalb der Industrie.

Die wirtschafts- und sozialpolitische Grundausrichtung der Europäischen Union dokumentiert sich beispielsweise in der Art und Weise der Umsetzung der Lissabon-Strategie (die Europäische Union will wirtschaftsstärkste Region bis 2010 werden) oder in der langfristigen Finanzplanung 2007-2013, die eine Verringerung der eingesetzten Mittel vorsieht. Diese Grundorientierung hat zur Folge, dass die Europäische Union tatsächlich mehr und mehr nur noch ein Marktprojekt mit seinen vier Grundfreiheiten Güterverkehr, Warenverkehr, Personenverkehr und Kapitalverkehr wird und das Solidaritätselement, wie beispielsweise mit dem Ziel der Umverteilung in der Strukturförderung zu finden ist, zurückgedrängt wird. Die vorgesehenen Liberalisierungsvorhaben, ob in einzelnen Sektoren wie bei Eisenbahn und Hafendienstleistungen oder flächendeckend mit der so genannten Bolkesteinrichtlinie, die die Einführung des Herkunfslandsprinzips vorsieht, würden, wenn sie so umgesetzt würden, ein Rechtschaos hervorrufen. Umweltpolitische, arbeitsschutzrechtliche, verbraucherschutzrechtliche und soziale Regelungen würden einer Deformation nach unten unterworfen und dem generellen Durchgriff von neoliberalem Verständnis, ganz im Einklang mit dem vorliegenden Verfassungsentwurf, weiterer Vorschub geleistet. Wenn diese Politik endgültig obsiegen würde, würden ihre schlimmsten Konsequenzen für viele Betroffene (Lohndumping, Vernichtung von beruflichen Qualifikationen und sozialem Status, Alters- und Kinderarmut, Verlust von Krankenversicherung und Deformation der gesamten Verfasstheit der europäischen Gesellschaft) erst noch bevorstehen. Soziale Deklassierung, Ausgrenzung, gesellschaftliche und soziale Entsolidarisierung würden sich verfestigen, demokratische Wertorientierungen zerstört und die Macht von politischen und sozialen Kräften, die den Großunternehmen und der Marktlogik entgegenstehen, gefährlich geschwächt.

In der permanenten Auseinandersetzung mit den neoliberalen kapitalistischen Kräften kann die Linke jedoch durchaus auch auf einige Erfolge verweisen. Die zwangsweise europäische Liberalisierung und Privatisierung des öffentlichen Personennahverkehrs konnte durch das von unserer Fraktion erarbeitete Gegenkonzept verhindert werden. Die Liberalisierung der Hafendienste wurde abgewendet, auch wenn die Europäische Kommission jetzt den nächsten Versuch einer Hafenliberalisierung unternimmt. Die Notwendigkeit des Erhalts des öffentlichen Sektors ist durch unser engagiertes Wirken Mehrheitsmeinung innerhalb des Europäischen Parlaments, noch, muss man leider sagen, da diese Mehrheit auch kippen kann. Dass es nicht darum gehen kann, Vollbeschäftigung durch prekäre Arbeitsplätze erreichen zu wollen, oder den Gesundheitsschutz im Arbeitswesen zu reduzieren, haben wir erfolgreich kommunizieren können und damit bislang politische Entscheidungen in dieser Richtung erfolgreich verhindert. Dass Bildung und Gesundheitsversorgung nicht in den Markt überführt werden dürfen, wie in der Bolkesteinrichtlinie vorgesehen war, ist auch unserem Wirken in Zusammenarbeit mit vielen Verbänden und Vereinen geschuldet. Wir haben durch unsere Kooperation mit Organisationen vie Via Campesina ebenfalls unseren bescheidenen Anteil daran, dass die WTO-Verhandlungen in Cancún gescheitert sind und arbeiten in diesem Sinne aktiv an der Vorbereitung der WTO-Ministerkonferenz im Dezember diesen Jahres in Hongkong mit.

Aufbauend auf unseren bisherigen Erfahrungen, positiven wie negativen, gilt es, in dieser Gesellschaft eine neue Strategie des Widerstandes zu entwickeln. Die PDS hat diese als das strategische Dreieck bezeichnet, welches sich zusammensetzt aus parlamentarischem Widerstand, außerparlamentarischem Widerstand und der visionären Entwicklung einer zukünftigen Gesellschaft. Zu letzterem ist es unabdingbar, auch in der Zeit der politischen und geistigen Defensive der kapitalismuskritischen Linken und unter den Bedingungen einer faktischen Tabuisierung von Macht- und Eigentumsfragen diese Fragen wieder offensiv zu stellen, da die systemimmanenten Spielräume für die notwendige soziale Demokratisierung und die demokratische Sozialisierung der Gesellschaft offenkundig erschöpft sind. Ralf Dahrendorf, ein zeitgenössischer deutscher Philosoph, hat diese Herausforderung folgendermaßen beschrieben: „Es gibt Zeiten, in denen soziale Konflikte und ihre wissenschaftliche Erörterung einen fundamentalen oder konstitutionellen Charakter annehmen… Das war im 18. Jahrhundert der Fall; … es gilt am Ende des 20. Jahrhunderts wieder. In solchen Zeiten stehen die Spielregeln von Herrschaft und Gesellschaft selbst zur Diskussion.“

Die Alternative zur heutigen Marktgesellschaft muss in meinen Augen vor allem in der entschiedenen Demokratisierung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bestehen. Eine sozialistische Gesellschaft charakterisiert sich für mich dadurch, dass jeder, unabhängig von seinen physischen oder psychischen Gegebenheiten ein menschenwürdiges Leben führen kann. Ein sozialistischer Staat setzt die Rahmenbedingungen so, dass eine Entfesselung des Kapitals, wie wir sie jetzt erleben, gar nicht erst möglich wird. Der Staat ist dafür verantwortlich, die gesellschaftliche Wertschöpfung gesetzlich so zu regeln, dass Sozial-, Umwelt, Arbeitsschutz gewährleistet sind, und der Staat trägt die Verantwortung dafür, dass der gesellschaftlich produzierte Mehrwert so umverteilt wird, dass alle Bürgerinnen und Bürger davon einen Nutzen ziehen und Anteil an der Gesellschaft haben können.