Gedenken an Jean Monnet und feierliches Begehen des 20. Jahrestages des Entwurfs eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union Rede von Dr.Sylvia-Yvonne Kaufmann auf der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Straßburg den 4. Mai 2004

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Es ist für mich eine große Freude und Ehre zugleich, hier und heute daran zu erinnern, dass der italienische Antifaschist und demokratische Kommunist Altiero Spinelli Initiator des Vertragsentwurfs zur Gründung der Europäischen Union vom 14. Februar 1984 war. Bekanntlich stimmte das Europäische Parlament damals diesem Vertragsentwurf, einem Vorläufer des vom Europäischen Konvent erarbeiteten Verfassungsentwurfs, mit einer bemerkenswert großen Mehrheit zu. Damals wies Altiero Spinelli ausdrücklich darauf hin, dass vor allem das Europaparlament als direkt von den Bürgerinnen und Bürgern legitimierte europäische Institution dazu berufen sei, die Einigung Europas voranzutreiben und fortzuentwickeln. Ich denke, diese Botschaft Spinellis, die wie ein Vermächtnis klingt, hat noch heute volle Gültigkeit. Sie sollte deshalb auch künftig Leitschnur für das Handeln dieses Hauses sein. Denn fortan geht es darum, dass 25 Staaten ihr Zusammenleben in der Europäischen Union solidarisch und gemeinsam für 450 Millionen Menschen demokratisch und sozial gestalten. Nur so, davon bin ich überzeugt, kann die am 1. Mai formell vollzogene Vereinigung Europas wirklich gelingen und zukunftsfähig werden.

Altiero Spinelli wurde 1979 auf der Liste der Italienischen Kommunistischen Partei in das Europaparlament gewählt. Er war Mitglied der damaligen Kommunistischen Fraktion, der fast nur Vertreter der kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs angehörten. Als Vorsitzender des „Institutionellen Ausschusses“ leitete er ab Juli 1982 die Ausarbeitung des Vertragsentwurfs. Da ich mich durchaus in der Traditionslinie Spinellis sehe, werden Sie es mir gewiss nachsehen, wenn ich heute vor allem an den Menschen und Politiker Spinelli erinnern möchte.

Ich tue das vor allem, weil Altiero Spinelli frühzeitig – und zwar bereits 1937 – definitiv mit dem Stalinismus brach und später mit Idealismus, Leidenschaft, Energie und manchmal auch mit Visionen, die über seine Zeit hinausreichten, unbeirrt für die Einigung Europas stritt – sei es als Berater de Gasperis, Jean Monnets und des italienischen Außenministers Nenni, als Gastprofessor und Politologe, als Mitglied der Europäischen Kommission oder des Europäischen Parlaments. Seine Kritiker und Gegner sagten ihm nach, er neige gelegentlich zu realitätsfremden Träumereien, während er sich dadurch in den eigenen Reihen wahrlich nicht nur Freunde machte. In Altiero Spinelli personifiziert sich für mich das europäische Erbe aus jüngster Vergangenheit: Nie wieder Nationalismus, Faschismus und Krieg! Vor allem diese bittere Erfahrung war es, weshalb er sich so vehement für ein geeintes Europa engagierte.

Altiero Spinelli kämpfte gegen den Faschismus und durchlitt dafür zehn Jahre lang Mussolinis Gefängnisse. Von daher war es nur folgerichtig, dass es solche Persönlichkeiten wie Spinelli waren, die bei den Konferenzen des Europäischen Widerstands 1944 in Genf zu den Initiatoren des Vorentwurfs für ein „Europäisches Manifest“ zählten. Noch vor dem Ende des Krieges kehrte Spinelli nach Norditalien zurück und nahm am bewaffneten Widerstand teil. Nach dem Krieg gehörte er neben solchen Persönlichkeiten wie Henri Frensy, Chef der französischen Widerstandsbewegung „Combat“, und dem deutschen Buchenwald-Überlebende Eugen Kogon zu den Mitbegründern der Europäischen Bewegung. So wuchs bei Altiero Spinelli, der sich bis zu seinem Tod am 23. Mai 1986 immer seine teuer erkaufte Freiheit bewahrte und der fest an ein geeintes und friedliches Europa glaubte, aus antifaschistischem Kampf Verantwortung für die freiheitliche, demokratische und friedliche Entwicklung Europas. Wir sollten gerade dieses antifaschistische Erbe in unserem Gedächtnis bewahren, vor allem aber stets danach handeln.