Die „europäische Zivilgesellschaft“ in der Verfassung

Welche Beteiligungs- und Mitwirkungsrechte werden eröffnet?
Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann MdEP (Mitglied des Europäischen Konvents)

Nichts ist heute, so scheint es, populärer als der allgegenwärtige Ruf nach der Stärkung der „Zivilgesellschaft“ – was immer das auch heißen mag. Für die einen ist die Zivilgesellschaft eher ein Sammelbegriff für den Bereich nichtstaatlichen gesellschaftlichen Engagements – genauer: für die „Gesamtheit aller Organisationsstrukturen, deren Mitglieder über einen demokratischen Diskurs- und Verständigungsprozess dem allgemeinen Interesse dienen und als Mittler zwischen öffentlicher Gewalt und den Bürgern und Bürgerinnen auftreten“ . Für die anderen hingegen stellt die „Zivilgesellschaft“ schlechthin das Gute, die Verkörperung von Demokratie und Bürgernähe dar. Was aus der „Zivilgesellschaft“ kommt, so diese weit verbreitete Meinung, kann so schlecht oder gar undemokratisch nicht sein – kommt es doch direkt von den Bürgerinnen und Bürgern, von „unten“ also, und bildet so ein Gegengewicht zu dem machtorientierten, oftmals abgehobenen Handeln der politischen Klasse.

Wenn wir uns die Institutionen, Vereine und Verbände einmal genauer ansehen, die in ihrer Gesamtheit die „Zivilgesellschaft“ bilden, so fällt ins Auge, dass es sich samt und sonders um Organisationen und Zusammenschlüsse handelt, die ein bestimmtes Anliegen oder doch zumindest eine bestimmte Zielrichtung verfolgen, ein Anliegen, welches aus Sicht dieser Gruppierungen gesamtgesellschaftlich nicht genügend verankert ist. Dies ist nicht nur legitim, sondern auch notwendig – eine lebendige Demokratie ist auf ein solches Engagement der Bürgerinnen und Bürger geradezu zwingend angewiesen! Allerdings, auch das liegt auf der Hand, werden höchst unterschiedliche, ja oft völlig konträre Anliegen verfolgt, und diese sind zudem von unterschiedlicher gesellschaftlicher Tragweite. Gleichwohl – und hieran möchte ich keinen Zweifel lassen – ist die Vertretung solcherart Partikularinteressen eben nicht die Sache des Staates und seiner Institutionen, etwa des Parlamentes, welches qua definitionem eine aus Wahlen hervorgegangene Vertretung aller Bürgerinnen und Bürger sein soll. Wiewohl dies häufig in der Praxis nicht der Fall ist, sollen doch staatliche Institutionen grundsätzlich frei von der Verfolgung partikularer Interessen sein. Den zivilgesellschaftlichen Kräften kommt denn auch keine eigentlich staatliche Aufgabe zu, sondern vielmehr, wie auch den Parteien, die Funktion der Bündelung und Zuspitzung von Meinungen und Interessen sowie deren Vertretung in der Öffentlichkeit.

Was heißt dies nun? Das heißt, dass – so habe ich in meinem Bericht zum Weißbuch der EU-Kommission „Europäisches Regieren“ geschrieben – die „organisierte Zivilgesellschaft … zwar wichtig, jedoch zwangsläufig sektorbezogen ist und … kein eigenständiger Träger demokratischer Legitimation sein kann, was sich schon daraus ergibt, dass ihre Vertreterinnen und Vertreter vom Volk nicht gewählt sind und also von ihm auch nicht abgewählt werden können“. In der Konsequenz heißt dies schließlich, dass „die Konsultation betroffener Kreise mit dem Ziel, Gesetzgebungsentwürfe zu verbessern, immer nur eine Ergänzung und kein Ersatz für die Verfahren und Entscheidungen der gesetzgebenden und demokratisch legitimierten Institutionen sein kann“2.

„Zivilgesellschaft“ und Europäischer Konvent

Akzeptiert man diese Sichtweise, so wird klar, wo die Chancen, aber auch die Grenzen zivilgesellschaftlicher Partizipation liegen. Der Europäische Konvent hat durch Anhörungen und Diskussionen versucht, so viel Anregungen wie möglich aus der Zivilgesellschaft für seine Arbeit am Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrages aufzunehmen. In dem gemäß der Erklärung von Laeken eingerichteten öffentlichen Forum des Konvents gingen 1264 Beiträge von Nichtregierungsorganisationen, der Wirtschaft, Hochschulen etc. ein. Tagungen wurden mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen abgehalten. Darunter waren Kirchen und andere religiöse Organisationen, Think Tanks, Vertreter lokaler und regionaler Organisationen sowie zahlreiche Nichtregierungsorganisationen. Im Juni 2002 fand eine Sondertagung des Plenums statt, die der Zivilgesellschaft gewidmet war. Im Juli 2002 wurde der Jugendkonvent abgehalten, dessen Vorsitzende weiter als Beobachter an den laufenden Arbeiten des Konvents teilnahmen. Last but not least wurden alle 26 Plenartagungen des Konvents im Fernsehen und im Internet übertragen, alle Dokumente und Beiträge wurden auf einer eigens eingerichteten Webseite veröffentlicht, die monatlich im Durchschnitt von 47.000 Personen und im Juni 2003 gar von 100.000 Personen aufgerufen wurde.

Alle diese Maßnahmen waren richtig und notwendig, zumal die öffentliche Debatte und die Herstellung eines Dialoges mit den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union zu den vornehmsten Aufgaben des Konvents gehörten. Gleichwohl wurden sogleich Klagen über die „Nichteinbeziehung der Zivilgesellschaft“ laut, die mit Sicherheit auch dann nicht verstummt wären, hätte man die hierfür aufgewendete Zeit vervielfacht. Und wie bei jeder demokratischen Entscheidungsfindung gab es am Ende der Konventsarbeiten Gewinner und Verlierer aus der organisierten Zivilgesellschaft. Über den Grad der Bürgernähe des Konvents sagt dies nicht eben viel aus. Egal, wie man zu den Ergebnissen des Konvents, zum schlussendlich vorgelegten Verfassungsentwurf, stehen mag – eines ist klar: Verglichen mit allen vorangegangenen Regierungskonferenzen der Europäischen Union war der Europäische Konvent, wie auch schon sein Vorgänger, der Konvent zur EU-Grundrechtecharta, ein Durchbruch, was die Beteiligung der Öffentlichkeit und die Transparenz der Arbeiten anging.

Bevor ich nun auf den Verfassungsentwurf des Konvents und insbesondere auf zwei Beispiele über die mögliche Rolle der Zivilgesellschaft im Zusammenhang mit der Debatte um den europäischen Verfassungsvertrag eingehe, möchte ich meiner Besorgnis Ausdruck verleihen: Nicht nur meiner Besorgnis über die schleppenden und inhaltlich wie formal nicht sachgerechten Arbeiten der Regierungskonferenz, sondern auch und insbesondere über die nach wie vor erschreckende Unkenntnis der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich der Arbeiten an einer europäischen Verfassung. Umfragen zufolge haben nur 38 Prozent der Bürgerinnen und Bürger je etwas vom Konvent gehört, nur ein Bruchteil von ihnen kennt den Text. Dies ist ein erschreckendes Ergebnis für jemanden wie mich, die über 17 Monate versucht hat, die Arbeiten des Konvents auch dazu zu nutzen, für die weitere Integration eines friedlichen, sozialen und demokratischen Europas zu werben.

Der Verfassungsentwurf des Konvents ist aus meiner Sicht , bei allen seinen politischen Defiziten und auch falschen Weichenstellungen, mit einem deutlichen Fortschritt in Richtung Demokratisierung der Europäischen Union verbunden. Dies widerspiegelt sich nicht nur in der Aufnahme der Grundrechtecharta als Teil II der Verfassung oder in der Tatsache, dass die Mitentscheidungsrechte des Europaparlaments erheblich ausgeweitet werden konnten. Der Konvent hat – wie über so viele Fragen – zum Beispiel lange und heftig darüber gestritten, ob die Legitimationsbasis der Europäischen Union neu definiert werden sollte. Also: soll sich die EU wie gehabt auch weiterhin als Union auf die „Staaten und Völker“ oder soll sie sich künftig neben den Staaten direkt auf die „Bürger“ gründen. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Entscheidung zugunsten der Bürger ausfiel (siehe Artikel I-1 über die Gründung der Union). Wer, wenn nicht die Bürgerinnen und Bürger selbst sind es, die letztlich den europäischen Einigungsprozess tragen? Sie sind es, die mit der Direktwahl des Europäischen Parlaments einer der beiden europäischen Gesetzgebungskammern die demokratische Legitimation verleihen.

Ein wichtiges Ergebnis des Konvents im Zusammenhang mit dem zur Debatte stehenden Thema ist ferner, dass Teil I des Verfassungsentwurfs – im Unterschied zum gegenwärtigen Status quo von Nizza – unter Titel VI erstmals einen eigenständigen Gesamtabschnitt zum „Demokratischen Leben der Union“ enthält. Hier werden zum einen die drei Grundsätze der Demokratie – Grundsatz der demokratischen Gleichheit (Artikel 44), Grundsatz der repräsentativen Demokratie (Artikel 45) und der Grundsatz der partizipativen Demokratie (Artikel 46) formuliert – und zum anderen auf die Rolle der Sozialpartner auf europäischer Ebene (Artikel 47) oder den Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften (Artikel 51) eingegangen. Hier ist das Amt des Europäischen Bürgerbeauftragten (Artikel 48) ebenso enthalten wie die Verpflichtung der EU-Organe zur Transparenz ihrer Arbeit (Artikel 49) oder die Frage des Schutzes personenbezogener Daten (Artikel 50).

Hervorheben möchte ich darüber hinaus zwei Fragen, die aus meiner Sicht für das Wirken der Zivilgesellschaft in der Verfassungsdebatte entscheidend sind: Dies ist zum einen das europäische Bürgerbegehren und zum anderen die Volksabstimmung über die Europäische Verfassung.

Das europäische Bürgerbegehren als Chance für die europäische Öffentlichkeit

Die Entscheidung von Seiten des Konventspräsidiums, in sprichwörtlich letzter Minute einen Passus in den Verfassungsentwurf mit aufzunehmen, der den Bürgerinnen und Bürgern der Union unter bestimmten Voraussetzungen (mindestens eine Million Unterschriften aus einer „erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten“) ein direktes Initiativrecht für europäische Gesetzesvorhaben gewährt, kam zwar überraschend, jedoch keineswegs zufällig. Zum einen musste das Konventspräsidium der wachsenden öffentlichen Kritik am Fehlen tiefgreifender Reformen zur Demokratisierung der EU begegnen, zum anderen lief bereits seit Monaten inner- und außerhalb des Konvents eine engagierte Kampagne für Referenden über den Verfassungsvertrag und zur Einrichtung europäischer Bürgerbegehren, die von NGO aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten – so etwa IRI Europe (Amsterdam) und „Mehr Demokratie“ (Berlin) – getragen und schließlich auch von über 100 Mitgliedern des Konvents unterstützt wurde.

Dass nunmehr Artikel I-46 Absatz 4 des Verfassungsentwurfs Bürgerbegehren auf europäischer Ebene vorsieht, kann nicht zuletzt als Erfolg dieser Bemühungen gewertet werden. Sollte dieser Vorschlag die Regierungskonferenz unbeschadet überstehen, wären damit erstmals in der europäischen Geschichte Elemente direkter Demokratie im EU-Vertragswerk verankert. Die EU-Verfassung würde tatsächlich neue Standards setzen für die aktive Mitgestaltung der europäischen Einigung durch die Bürgerinnen und Bürger.

Das europäische Bürgerbegehren würde eine wichtige Ergänzung des Prinzips der repräsentativen Demokratie sein. Letzteres freilich ist unverzichtbar, geht es doch von einer Vertretung der Bürgerinnen und Bürger durch gewählte Abgeordnete aus, wobei den Parteien die Aufgabe der Bündelung und Zuspitzung der politischen Positionen zukommt. Der institutionalisierte Meinungsstreit in der Demokratie bringt ein hohes Maß an öffentlicher Diskussion mit sich – die Grundvoraussetzung einer funktionierenden, lebendigen Demokratie. Im Idealfall besteht ein Wechselspiel zwischen Parteien und Öffentlichkeit, welches wiederum auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung rückwirkt und diese befördert. Dies ist ein ganz wesentliches Element demokratischer Gesellschaften – und hier verortet sich auch der Bereich demokratischer Partizipation, der den demokratischen Prozess nicht ersetzen kann. Jedem populistischen Versuch, die „Parteiendemokratie“ dadurch zu denunzieren, indem man ihr die vermeintlich „authentischere“ direkte Demokratie gegenüberstellt, muss entschieden entgegengetreten werden. Es handelt sich hierbei um nichts anderes als antiliberales, antidemokratisches Gedankengut. Dasselbe gilt für rechtspopulistische Hoffnungen, über die Abhaltung von Referenden grundlegende Elemente der Demokratie oder gar Grund- und Menschenrechte in Frage stellen oder gar beseitigen zu können. Solcherart Absichten sind unmissverständlich zurückzuweisen: Grund- und Menschenrechte dürfen niemals auch nur zur Disposition gestellt werden!
Demgegenüber kann ein Ansatz, der auf partizipative Elemente in der Demokratie abhebt, eine sinnvolle Ergänzung zum repräsentativen, parlamentarischen System darstellen. Gerade dort, wo die Parteiendemokratie aufgrund einer fehlenden politischen Öffentlichkeit (noch) nicht funktioniert, ist Partizipation ein um so dringlicheres Anliegen. Dies trifft in hohem Maße auf die Europapolitik zu, die nach wie vor viel zu wenig öffentlich diskutiert wird. Genau an diesem Punkt kann die Einrichtung eines Bürgerbegehrens helfen: Die damit verbundene Notwendigkeit der Einnahme einer übernationalen Perspektive sowie der intensiven Befassung mit Regelungen und Gesetzgebungsmechanismen auf EU-Ebene kann zur Herausbildung eines europäischen Selbstverständnisses beitragen, das bis heute leider nach wie vor nur selten unter den Bürgerinnen und Bürgern der EU anzutreffen ist.

Kurzum: Das europäische Bürgerbegehren, wie es im Verfassungsentwurf des Konvents vorgesehen ist, kann eine europäische Öffentlichkeit schaffen helfen und damit einen entscheidenden Beitrag zur Verringerung der Kluft zwischen Europa und seinen Bürgerinnen und Bürgern leisten!

Volksabstimmung über die Europäische Verfassung?

Was die Frage der Ratifizierung der Europäischen Verfassung selbst angeht, so reicht es m. E. einfach nicht aus, den alleinigen Weg über die Parlamente zu gehen. Referenden in allen Mitgliedstaaten der EU sind vonnöten, um die damit verbundene grundsätzliche politische Weichenstellung für das geeinte Europa der unmittelbaren Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger zu unterwerfen. Die Tatsache, dass die Europäische Verfassung das Zusammenleben der Menschen und der Staaten in der EU wahrscheinlich für lange Zeit prägen wird, macht dieses Anliegen umso dringlicher. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es hierfür leider keine rechtliche Grundlage. Bisher sind Volksabstimmungen zwar in einigen Landesverfassungen vorgesehen – auf Bundesebene hat sich der Gesetzgeber jedoch seit Jahren um die Einführung von Elementen partizipativer Demokratie herumgedrückt. Die PDS hatte dies jahrelang, leider erfolglos, eingefordert. Vor allem die großen EU-Vertragsänderungen von Maastricht und Amsterdam hätten unserer Meinung nach in einem Referendum zur Abstimmung gestellt werden sollen. Im Jahre 1999 ergriff die damalige PDS-Bundestagsfraktion erneut die Initiative für direkte Demokratie. Sie brachte ein „Gesetz über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid“ (BT-Drucksache 14/1129) in den Bundestag ein, um Bürgerinnen und Bürgern erweiterte und unmittelbare Möglichkeiten zu geben, aktiv an öffentlichen Entscheidungen mitzuwirken. Leider hatte diese Initiative damals im Deutschen Bundestag keinerlei Chance, wie auch der Gesetzesentwurf von SPD und Grünen zur Einführung von Elementen direkter Demokratie ins Grundgesetz am 7. Juni 2002 an der CDU/CSU-Fraktion scheiterte.

Die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch direkte Demokratie ist somit in der Bundesrepublik bis heute Zukunftsmusik geblieben. Zwar hat im Rahmen der Debatte um die Europäische Verfassung auch diese Diskussion wieder an Schwung gewonnen – Stimmen für eine Volksabstimmung über den Text der Europäischen Verfassung finden sich zwischenzeitlich in so gut wie allen Parteien. Die Bundesregierung hat sich jedoch, obwohl sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Koalitionsvertrag zur Einführung plebiszitärer Elemente auf Bundesebene bekennen, gegen diese Forderung gestellt. Und auch CDU/CSU im Deutschen Bundestag beharren auf ihrer Blockadehaltung.

Nichtsdestotrotz sollte das Thema Volksabstimmung auf der Tagesordnung bleiben. Der Gesetzgeber sollte zumindest den Weg für ein konsultatives Referendum frei machen, um so die dringend notwendige Debatte über den EU-Verfassungstext in einer breiteren Öffentlichkeit zu befördern. Diese Debatte und die mit ihr verbundene Sensibilisierung der Öffentlichkeit braucht es dringend, um – wie in vielen Sonntagsreden gefordert – Europa den Bürgerinnen und Bürgern wirklich ein Stück näher zu bringen.