Rede von Sahra Wagenknecht am 25.10.2004 im Europaparlament über den Lipietz-Bericht zum Jahresbericht der Europäischen Zentralbank
Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen,
es gibt ökonomische Thesen, die sind verblüffend resistent gegenüber der Realität. Zu diesen Thesen gehört die Annahme, dass eine Zentralbank, die sich um Preisstabilität kümmert, damit a priori auch ihren bestmöglichen Beitrag zu Vollbeschäftigung und Wachstum leistet.
Unstrittig haben wir in der Eurozone seit Jahren Preisstabilität.
Rechnen wir den Effekt von Ölpreisanstieg und indirekten Steuern heraus, beträgt die Inflationsrate im Euroraum in diesem Jahr kaum über 1 Prozent. Das ist hart an der Schwelle zur Deflation. Haben wir deshalb etwa weniger Arbeitslosigkeit und mehr Wachstum?
Natürlich geht die Krise nicht nur auf falsche Geldpolitik zurück. Sie geht vor allem zurück auf eine profithörige sogenannte Reformpolitik, die Arbeitnehmerrechte zerschlägt, Lohndumping befördert, soziale Leistungen privatisiert und durch all das zu strangulierter Massenkaufkraft und wachsender Armut in Europa beiträgt.
Aber auch die Geldpolitik hat durch zu späte und unzureichende Zinssenkungen eine Mitverantwortung. Der EZB zuzuschreiben, sie habe das Ziel der Vollbeschäftigung unterstützt, ist zynisch gegenüber Millionen Frauen und Männern, die in den letzten Jahren ihren Arbeitsplatz verloren haben. Nicht wenige deshalb, weil kleine Unternehmen durch teure Kredite ausgeblutet wurden.
Denn auch das gehört zu den Aufgaben einer Zentralbank: Alarm zu schlagen, wenn der private Bankensektor durch immer stärkere Konzentration wachsende Marktmacht erhält und Leitzinssenkungen primär die Profitmarge der Geldhäuser erhöhen, statt bei kleineren Unternehmen und Konsumenten anzukommen. Auch in dieser Hinsicht hat die EZB versagt.
Wer die Geschichte der europäischen Währungsunion zur Erfolgsstory umlügt, zeigt damit nur einmal mehr, durch die Brille welcher Interessen er die politische Entwicklung in Europa betrachtet. Vom Blickpunkt der europäischen Geldelite aus, mit Blick auf goldgeränderte Konzernbilanzen und wachsende Profite, ist die Währngsunion ein unschlagbares Erfolgsmodell. Wer die Welt unter diesem Blickpunkt betrachtet, mag der EZB Beifall zollen und für den vorliegenden Bericht stimmen. Wir werden es nicht tun.