André Brie, Rede im Plenum am 13. Dezember 2004 im Namen der Fraktion im Europäischen Parlament zur Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Fraktion spricht sich mit großer Mehrheit für die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei aus und unterstützt ausdrücklich die Formulierung der vorliegenden Resolution, dass das Ziel dieser Verhandlungen die EU-Mitgliedschaft der Türkei sein soll.
Wir lassen uns dabei erstens davon leiten, dass die EU kein exklusives und schon gar nicht ein christlich-abendländisches Projekt ist, sondern entsprechend den geltenden Verträgen offen ist für alle europäischen Staaten, damit auch für die Türkei. Zweitens anerkennen wir die weit reichenden positiven politischen und rechtlichen Reformen in der Türkei in den vergangenen beiden Jahren, die in eindeutigem kausalen Zusammenhang mit der Verhandlungsperspektive stehen. Wir erwarten, dass die demokratischen Veränderungen und die Durchsetzung der Menschenrechte durch die Verhandlungen beschleunigt und unumkehrbar werden und vor allem die vorhandene, sehr ernste Kluft zwischen beschlossenen demokratischen Rechten einerseits und undemokratischer Praxis anderseits überwunden wird. Der politische und soziale Alltag vieler Menschen und insbesondere der Millionen Kurdinnen und Kurden ist weiterhin äußerst unbefriedigend. Es gäbe aus unserer Sicht daher durchaus Gründe, vor der Aufnahme der Verhandlungen eine deutlichere Übereinstimmung von Gesetzesanspruch und Realität zu verlangen. Doch bei einem kürzlichen Besuch im kurdischen Teil der Türkei haben alle kurdíschen Parteien und Politiker, Menschenrechtsorganisationen und selbst Opfer der türkischen Vertreibungspolitik uns gebeten, uns für rasche Verhandlungen einzusetzen, von denen sie sich eine Verbesserung ihrer Lage und die Überwindung der Diskriminierung der Kurdinnen und Kurden versprechen.
Die Verhandlungsaufnahme ist ein großer Vertrauensvorschuss. Unser Ja zur Verhandlungsaufnahme bedeutet nicht, dass wir meinen, die Türkei würde die politischen Kriterien von Kopenhagen bereits erfüllen, wie es der türkische Premier Erdogan auch heute wieder behauptet hat. Die vorliegende Resolution ist in dieser Hinsicht enttäuschend und widersprüchlich. Das ist keine Kritik am Berichterstatter, der kompetent und engagiert versucht hat, einen ebenso konstruktiven wie kritischen Bericht vorzulegen. Enttäuscht und überrascht bin ich vor allem von der sozialdemokratischen und der grünen Fraktion, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die meisten konkreten, sachlich und zeitlich messbaren Forderungen zur Überwindung zentraler demokratischer Defizite nicht Eingang gefunden haben.
Ich habe in den vergangenen Jahren viel von Sozialdemokraten und Grünen gelernt, insbesondere von ihrem Bestreben, Menschenrechtspolitik einen konkreten Gehalt zu geben und sie damit durchsetzungsfähig zu machen. Ich verstehe zwar, dass man den Gegnern eines Türkeibeitritts keine Instrumente für ihre Ablehnungskampagne in die Hand geben will, doch geht es hier erstens um die prinzipiellen Werte und Voraussetzungen der Europäischen Union und vor allem um die Situation von Millionen Menschen in der Türkei. Zweitens dürfte angesichts der riesigen und vielfältigen Herausforderungen, die der Türkeibeitritt bedeuten wird, Entproblematisierung die falscheste Taktik gegenüber der Türkei und gegenüber den Veränderungserfordernissen in der EU selbst sein.
Die Resolution spricht zweimal das Problem des griechisch-orthodoxen Seminars Halki an. Ich stimme dem zu, dass aber die Lage der 20 Millionen Kurdinnen und Kurden nicht konkret behandelt wird, ihre große soziale Benachteiligung gar nicht, dass die Fragen der mehr als vier Millionen kurdischen Flüchtlinge und der mehr als viertausend zerstörten kurdischen Dörfer nicht benannt werden und entsprechende Änderungsanträge von den Sozialdemokraten und Grünen abgelehnt wurden, ist unverantwortlich. Wer über diese Fragen nicht offen spricht, nicht hier ebenso wie in der Zypernfrage rasche und praktische Veränderungen in der türkischen Politik fordert, wird den Herausforderungen eines Türkeibeitritts und der erforderlichen Transparenz nicht gerecht werden.
Ich war kürzlich mit einigen Kolleginnen und Kollegen in der kurdischen Stadt Kiziltepe an der syrischen Grenze und haben die Familie eines LKW-Fahrers und eines 12jährigen Jungen besucht, die von türkischen Sicherheitskräften zwei Tage zuvor ermordet worden waren. Der Gouverneur der Provinz Mardin sprach von zwei bewaffneten Terroristen, die erschossen wurden. In jedem EU-Mitgliedsland hätte ein Politiker für derartige Äußerungen in einem solchen Fall zurücktreten müssen.
Diese sehr konkreten Maßstäbe werden wir verteidigen. Unsere Ablehnung des konservativen Konzepts einer „privilegierten Partnerschaft“ wird aber auch einhergehen mit einer aktiven Opposition gegen die Position der EU-Kommission, des Rates und der vorliegenden Resolution, der Türkei eine diskriminierende Mitgliedschaft, eine Mitgliedschaft zweiter Klasse einzuräumen.