Europäische Abschottungspolitik beenden

Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann MdEP
Rede auf der Plenartagung des Europäischen Parlaments
Straßburg, 11. Februar 2004

Jährliche Aussprache (2003) über die Fortschritte bei der Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) in der EU (Artikel 2 und 39 VEU)

Herr Präsident, Herr amtierender Ratspräsident, Herr Kommissar, liebe Kolleginnen und Kollegen,

wenn wir uns die so genannten „Fortschritte“ bei der Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts anschauen, ist die Bilanz niederschmetternd. Ich sage so genannte Fortschritte, weil es in erster Linie darum geht, Europa mehr und mehr von der übrigen Welt abzuschotten. Zu dieser Politik – oder besser zu diesem Irrweg europäischer Politik – hat sich UN-Generalsekratär Kofi Annan vor kurzem offen und deutlich anlässlich der Verleihung des Sacharow-Preises vor diesem Haus geäußert. Nicht höfliche Dankesfloskeln richtete der UN-Generalsekratär an uns, sondern er las den Europäern und ihrer Einwanderungspolitik im wahrsten Sinne des Wortes „die Leviten“.

Ich darf Sie an seine Botschaft erinnern: „Einwanderer brauchen Europa. Aber Europa braucht auch Einwanderer.“ Und Annan fügte hinzu, die Aufnahme und Integration von Immigranten sei nicht nur eine moralische und rechtliche Verpflichtung, sondern ebenso ein „Teil der Lösung“ der europäischen Wirtschaftsprobleme.

Scharf kritisierte er die EU-Abschottungspolitik. Eine restriktive Asyl- und Einwanderungspolitik treibe viele Menschen in die Hände krimineller Schmugglerbanden oder gar in den Tod, so der UN-Generalsekretär: „Sie ersticken in Lastwagen oder sterben im Gepäckraum von Flugzeugen.“ Und: „Diese stille Krise der Menschenrechte beschämt unsere Welt.“

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, für diese „stille Krise der Menschenrechte“ gibt es Verantwortliche. Es ist eben kein anonymer Sachzwang, der jährlich an den Grenzen der Europäischen Union hunderte von Menschen zu Tode kommen lässt.

Doch worüber reden Rat und Kommission?

· von gemeinsamen Verzeichnissen „sicherer Herkunftsländern“,

· von Grenzschutzagenturen zur verstärkten Überwachung der Land- und Seegrenzen,

· vom Abschluss von Rücknahmeabkommen usw. usf.

Doch damit nicht genug. Wenn alle dies Rechtskraft erlangt, dann wird es so sein, dass man im Grunde nur noch mit dem Fallschirm über der Europäischen Union abspringen kann, um überhaupt eine Chance zu erhalten, einen Antrag auf Asyl zu stellen!

Gleichzeitig beteiligen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten aber aktiv daran, Flüchtlinge aus den Ländern der so genannten „Dritten Welt“ geradezu zu „produzieren“, und zwar durch unzureichende Armutsbekämpfung, durch Rüstungsexporte in Krisenregionen und anderes mehr.

Aber anstatt genau hier gegenzusteuern, sollen nun Millionen von Euro für Pilotprojekte ausgegeben werden, um Abschiebungen im europäischen Rahmen zu vollziehen.

Als deutsche Europaabgeordnete weiss ich auch, dass bisher jeder halbwegs progressive Vorschlag zur EU-Asyl- und Einwanderungspolitik von der Regierung meines Landes im Ministerrat blockiert wird. Alle deutschen Sonderregelungen, um Asylsuchende abzuschrecken und zu schikanieren, sollen erhalten bleiben. Als Beispiel sei nur die Residenzpflicht für Flüchtlinge genannt, die in Europa einmalig ist: Nur in Deutschland werden Flüchtlinge bestraft, wenn sie „ihren Landkreis“ verlassen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
solange sich an der Grundausrichtung der Politik nichts ändert, wird der massenhafte Tod von Einwanderern und Flüchtlingen an unseren Grenzen weitergehen. Zwar werden über die Tragik einzelner Schicksale gelegentlich ein paar Krokodilstränen vergossen, aber ändern wird sich nichts.

Wir müssen endlich den Mut haben, den Leuten reinen Wein einzuschenken: Europa braucht Einwanderung. Ohne Einwanderung werden statt heute 450 Millionen Menschen in der erweiterten EU im Jahre 2050 nur noch 400 Millionen Menschen leben. Allein Deutschlands Bevölkerung wird sich, wenn nicht umgesteuert wird, um ein Viertel verringern – mit ungeheuren Folgen für die Sozialsysteme und die Wirtschaft.

Die zahlreichen Menschenrechtsorganisationen aus der Zivilgesellschaft haben Recht, wenn sie Nein zu dieser Abschottungspolitik sagen.

Vorschläge für eine EU-Asyl- und Einwanderungspolitik auf hohem menschenrechtlichen Niveau liegen auf dem Tisch. Sie müssen nur endlich aufgenommen werden. Dann können wir hier wirklich über Fortschritte debattieren.

· Notwendig ist ein Asylrecht in Europa nach der Genfer Konvention – inklusive der Anerkennung von geschlechtsspezifische und nichtstaatlicher Verfolgung als Fluchtgrund sowie der Anerkennung von Desertion und Kriegsdienstverweigerung.

· Notwendig ist der freie Zugang zu einem europäischen Asylrecht und zu Asylverfahren.

· Notwendig ist ein Rechtsrahmen, um legale Einwanderung in die EU zu ermöglichen – einen Rechtsrahmen, der auch die Interessen der Einwanderungswilligen berücksichtigt.

· Wir brauchen einen Rechtsraum für Legalisierungskampagnen von Menschen ohne Papiere.

· Und nicht zuletzt: Wir brauchen das Recht auf Freizügigkeit für alle in der Union lebenden Menschen.