Sahra Wagenknecht, 15.09.04 – Rede im Europäischen Parlament während der Debatte über die Erklärungen von Rat und Kommission zum Stabilitätspakt

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,

der Stabilitätspakt hat nicht zu Stabilität und Wachstum in Europa geführt, sondern zum Gegenteil: in den meisten europäischen Staaten sind die Wachstumsraten heute niedriger als früher. Gewachsen sind statt dessen Armut, Arbeitslosigkeit, Billigjobs und Firmenpleiten im Mittelstand. Wollen sie den Europäern im Ernst weismachen, so sähe Stabilität aus?

Niemand wünscht sich Inflation; aber eine Preisstabilität, die auf Kosten von Beschäftigung und Lebensqualität erkauft wird, solche Stabilität nützt ausschließlich dem europäischen Geldadel und geht zu Lasten der großen Mehrheit der Menschen.

Die Vorschläge, die die Kommision zur Reform des Stabiltätspaktes vorgelegt hat, bedeuten leider kein Umdenken, sondern sind bloße kosmetische Korrekturen, um ein obsoletes Konzept überhaupt wieder praktikabel zu machen.

Diejenigen, die die Kommissionsvorschläge als Aufweichung des Paktes kritisieren, haben offenbar nicht begriffen, dass der Stabilitätspakt in seiner Urversion gar nicht mehr zu retten ist. Immerhin haben sich inzwischen sechs Länder so erfolgreich in die Krise hineingespart, dass sie deshalb – und nicht wegen expansiver Ausgabenpolitik – heute die Kriterien nicht mehr einhalten können. Wer den Pakt als Keule zur Sanktionierung von Sozialabbau und Privatisierungspolitik aufrechterhalten will, muss die Anwendung flexibler gestalten.

Genau deshalb lehnen wir, die Vereinigte Europäische Linke, die Kommissionsvorschläge ebenso ab wie den Geist und Buchstaben des Paktes selbst.

Wer wirklich Stabilität und Wachstum in Europa will, muss die neoliberalen Dogmen begraben. Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck; öffentliche Investitionen sichern Zukunft und Beschäftigung.
Ein prosperierender Binnenmarkt verlangt Massenkaufkraft, die ohne wieder steigende Lohnquoten und soziale Ausgaben nicht zu haben ist.

Und wenn wir schon über Defizite reden: Würden europäische Konzerne durch eine EU-weite Harmonisierung der Körperschaftssteuer auf oberem Niveau endlich wieder angemessen zur Kasse gebeten und würde Europa durch eine neue Verfassung auf Abrüstung statt Aufrüstung verpflichtet, wäre das allemal ein wirksamerer Beitrag gegen ausufernde Staatschulden als sämtliche rabiaten Kürzungsprogramme, die die Probleme nur noch mehr verschlimmern.

Einen Stabilitätspakt für Europa, der diesen Namen verdient, einen, der die europäischen Staaten statt auf blinde Defizitziele auf die Reduzierung von Armut und Arbeitslosigkeit verpflichtet, einen solchen Pakt würden wir uneingeschränkt unterstützen. Lebensverlängernde Maßnahmen dagegen für ein Werkzeug zur Zerschlagung des europäischen Sozialmodells stoßen auf unseren klaren Widerstand.