Rede vor dem Berliner Jugendkonvent: Zur Bedeutung der EU-Grundrechtecharta
Sylvia-Yvonne Kaufmann
Rede auf der Abschlussveranstaltung des Berliner Jugendkonvents
25. Februar 2003
Zur Bedeutung der EU-Grundrechtecharta
Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Konventionalistinnen und Konventionalisten,
die Grundrechtecharta, so sagte mal mein dänischer Abgeordnetenkollege Jens-Peter Bonde – er gehört der Fraktion der Euroskeptiker im Europäischen Parlament und im Konvent an – sei wie ein Stück verlockender Käse in einer Mausefalle. Warum? Er meint, mit dieser Charta wolle man die Menschen in der Europäischen Union nur in die Falle locken, in die Falle des sogenannten europäischen „Superstaates“. So ungefähr lassen sich die Befürchtungen vieler Europaskeptiker zusammenfassen. Deshalb wurde und wird das Projekt der Charta der Grundrechte abgelehnt. Und um nicht die „Mausefalle“ zu geraten, will man natürlich auch keine europäische Verfassung.
Es gibt aber auch andere. Sie erkennen zwar an, dass der „verlockende Käse“ nicht nur wohl duftet, sondern auch von guter Qualität ist. Aber: Sie wollen einfach nicht, dass er auf den Tisch kommt, und zwar für die ganze Familie. Mein Kollege Andrew Duff von den britischen Liberalen charakterisierte die Haltung der britischen Regierung so: Zwar habe sie dem deutschen Vorschlag auf dem EU-Gipfel in Köln im Sommer 1999 zugestimmt, eine Charta der Grundrechte auszuarbeiten, um die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eindeutiger und sichtbarer zu machen. Doch mehr eben nicht. Warum? Die Briten, so mein Kollege Duff, behandelten die Mitgliedschaft in der EU wie die in einem der traditionellen Herrenclubs im Londoner Stadtteil St. James. Dazu zu gehören ist zwar ein Privileg und der Klub hat Regeln, die für alle gelten. Man kann jederzeit hingehen und immer wieder mal reinschauen, aber auch gehen, wie es einem gefällt. So sollte es sich denn bei der Charta nach britischer Vorstellung um ein „Ausstellungsstück“ handeln, dass man im Schaufenster des Klubmuseums zeigen, aber auf keinen Fall mit Leben erfüllen sollte.
So stellte sich denn auch vor allem die britische Regierung auf dem EU-Gipfel in Nizza quer. Die Charta sollte auf keinen Fall rechtsverbindlich werden, aber als europäische Schaufensterdekoration war sie willkommen. So wurde nichts aus der Rechtsverbindlichkeit der Charta für alle Bürgerinnen und Bürger. Die Staats- und Regierungschefs proklamierten sie lediglich „feierlich“ am 10. Dezember 2000.
Allerdings: im Schaufenster stand sie immerhin, und so wurde der Ruf, sie in die europäische Verfassung aufzunehmen, immer drängender. Deshalb steht sie nun auch auf der Tagesordnung des europäischen Verfassungskonvents, der seit nunmehr einem Jahr berät, ganz oben auf der Tagesordnung.
Der selbe politische Streit muss dort nun erneut ausgefochten werden. Die Frage ist und bleibt: Soll die Charta Herzstück der europäischen Verfassung werden? Soll sie damit rechtsverbindlicher Teil der europäischen Rechts- und Werteordnung werden oder soll sie als schmuckvolle Dekoration im Schaufenster verstauben?
Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen im europäischen Verfassungskonvent streite ich für die Charta. Ich will, dass sie an prominenter Stelle, in ihrem vollen Wortlaut Teil der europäischen Verfassung wird, und damit rechtsverbindlich. Ich halte das für unverzichtbar. Denn so, wie in Staaten die Rechte der Bürgerinnen und Bürger garantiert sein müssen, so müssen auch die Europäische Union und ihre Institutionen in allem was sie tun, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten. Tun sie es nicht, dann müssen die Bürgerinnen und Bürger jederzeit die Möglichkeit haben, gegen die Verletzung ihrer Rechte vor Gericht zu gehen. Dies ist der Kerngehalt von Rechtsstaat und Demokratie. Selbstverständlich muss dies auch Kennzeichen der Europäischen Union sein.
Die Diskussion im europäischen Verfassungskonvent ist gerade jetzt an einem Scheidepunkt angelangt. Denn in der Arbeitsgruppe des Konvents, die sich mit der Problematik der Rechtsverbindlichkeit der Charta beschäftigte, gab es wieder eine massive Intervention der britischen Regierung. Frei nach dem Motto. Wenn schon angesichts der Haltung der großen Mehrzahl der Konventsmitglieder eine Aufnahme der Charta in die europäische Verfassung nicht zu verhindern sein wird, dann soll sie aber nur ein Protokollanhang sein oder aber wir versuchen Regelungen einzubauen, die insbesondere die Geltung der „sozialen Grundrechte“, stark beschneiden bzw. eingrenzen. Davon berührt sind dann solche Fragen wie:
– Soll es in Zukunft ein europäisches Streikrecht geben oder nicht? (Art. 28)
– Soll es ein Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung geben? (Art. 30)
– Soll es ein Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung geben? (Art.34)
– Und nicht zuletzt: Soll es ein Recht für die Menschen in der Union auf Umweltschutz, Gesundheitsschutz oder Verbraucherschutz geben? (Art.35, 37,38)
Ich denke, gerade hier auf dem Gebiet „Soziales“ muss die Europäische Union einen umfassenden Grundrechtsschutz etablieren. Was nützt den Menschen in der Union ein europäisches Streikrecht, wenn sie sich nicht darauf berufen können? Was bedeuten ihre Rechte auf Umwelt- und Gesundheitsschutz, wenn Europäische Kommission, Ministerrat oder EP dies bei europäischen Gesetzen nicht beachten?
Und damit sind auch Sie gefordert: Sagen sie uns Politikerinnen und Politikern deutlich Ihre Meinung. Ich finde, dass es nicht angehen kann, das soziale Europa in Sonntags- und Fensterreden hochleben zu lassen, aber dann ziemlich einsilbig zu werden, wenn es darum geht, Ihnen Ihre Rechte auf sozialen Schutz als Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben zu gewähren.
Die sozialen Rechte sind ein unverzichtbarer Bestandteil unserer europäischen Identität. Mit der Grundrechtecharta nehmen erstmals in einem europäischen Dokument politische Freiheits- und Bürgerrechte und soziale Rechte den gleichen Stellenwert ein. Es zeichnet die Charta aus, dass die Europäische Union die Traditionen des europäischen Sozialmodells aufgreift und gegenüber Armut, sozialer Ausgrenzung und Massenarbeitslosigkeit nicht einfach die Augen verschließt. Europa soll ein Raum sein, der eben nicht nur Markt und gemeinsames Geld bedeutet, sondern sozialen Schutz ebenso wichtig nimmt. Europa soll ein Raum sein, der Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben, insbesondere für junge Menschen, schafft.
Wenn wir ein Europa der Grundrechte wollen, in den jetzigen Mitgliedstaaten der EU ebenso wie in den mittelost- und südosteuropäischen Ländern, die schon im nächsten Jahr zur EU gehören werden, dann muss das Ziel sein, die Charta in die Verfassung zu bekommen. Denn sie ist weiß Gott kein Käse in der Mausefalle und zu schade, um als Schaufensterauslage nur besichtigt zu werden. In diesem Sinne möchte ich Sie ermutigen, unterstützen sie mich und meine Kolleginnen und Kollegen im Verfassungskonvent. Es geht um die Zukunft Europas und damit ganz besonders um Ihre Zukunft: Treten sie ein für Ihre Rechte! Unterstützen Sie mit Ihrem Votum auch die Mitglieder des Jugendkonvents, der sich ebenfalls klar für die Aufnahme der Charta in die europäische Verfassung ausgesprochen hat.