André Brie, 14. Mai 2003, Rede im Namen der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken (GUE/NGL) im Plenum des EP zum EU-Russland-Gipfel
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,
es ist offensichtlich keine Frage in diesem Haus, dass es zwischen der Europäischen Union und Russland eine wirklich intensive und wechselseitige politische, wirtschaftliche, umweltpolitische, kulturelle und menschliche Partnerschaft geben sollte. Dazu hat es in den vergangenen Jahren auch beiderseitig eine ganze Reihe von konkreten Fortschritten gegeben.
Zugleich gibt es eine ganze Reihe von Problemen, die zu langsam oder unzureichend gelöst werden, darunter auch durch die EU selbst beziehungsweise EU-Staaten und Staaten, die im nächsten Jahr der EU beitreten. Für mich sind insbesondere die Fragen, die mit dem Gebiet Kaliningrad zusammenhängen, immer noch unbefriedigend; ganz zu schweigen davon, dass die positiven Chancen weder von der russischen Regierung noch durch die EU zielstrebig oder gar umfassend und strategisch genutzt und entwickelt werden.
Strategisch, das ist meiner Meinung nach das Schlüsselwort. Ich glaube, dass die Gemeinsame Strategie der EU gegenüber Russland vom Juni 1999 viel kritischer eingeschätzt werden sollte. Insbesondere zeigt sich auch in dieser wahrlich entscheidenden außenpolitischen Frage, dass von einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU nicht wirklich die Rede sein kann. Die Gemeinsame Strategie ist bislang weder „gemeinsam“ noch eine „Strategie“, noch wird das viel bescheidenere, aber immerhin existierende Konzept für die Beziehungen zwischen der EU und Russland konseuqnet realisiert.
Erstens möchte ich die Verantwortung und die Chancen für eine strategische internationale und sicherheitspolitische Partnerschaft hervorheben. In einer Welt, in der die Rolle der Vereinten Nationen und des Völkerrechts durch die Politik und die militärische Übermacht der USA akut gefährdet werden, ist es von größter Bedeutung, dass die EU und Russland gemeinsam und durch eine strategische Entwicklung ihrer Beziehungen zu Multilateralismus, zur Stärke des internationalen Rechts, internationaler Kooperation, internationaler Abkommen und internationaler Abrüstung beitragen. Die aktuelle Notwendigkeit zeigt sich bei der Durchsetzung der UNO-Rolle für den Wiederaufbau des Irak.
Zweitens brauchen wir eine substanzielle, eine qualitative Weiterentwicklung der ökonomischen Beziehungen mit Russland. Zum einen sollte es dabei bewusst um Entwicklung von wechselseitigen Verflechtungen gehen. Ich halte das für ökonomisch sinnvoll und gleichzeitig für einen wesentlichen Beitrag, um das Verhältnis zwischen der EU und Russland unumkehrbar, dauerhaft und zukunftsorientiert zu stabilisieren. Zum anderen ist die russische Exportstruktur in die EU die eines rohstoffreichen Entwicklungslandes. Angesichts der großen und modernen technologischen, wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Potenzen Russlands ist das eine unakzeptable Situation. Gleichwohl ist es bekanntermaßen äußerst kompliziert, sie zu ändern. Ohne eine konkrete politische Anstrengung auf beiden Seiten, und die vermisse ich, wird das daher unmöglich bleiben.
Drittens braucht eine strategische Partnerschaft auf beiden Seiten eine konsistente und konsequente Orientierung auf Demokratie und die Durchsetzung der Menschen- und Minderheitenrechte. Es muss auf beiden seiten Achtung und Verständnis für Differenzen und unterschiedliche Bewertungen, Erfahrungen und Bedingungen geben. Was es jedoch nicht geben kann ist eine konjunkturelle Behandlung der Menschenrechte und ihrer Rolle, wie ich sie seitens des Rates und der Regierungen insbesondere in der Tschetschenienfrage beobachte. Das ist ein weiteres Zeichen für die Abwesenheit einer Strategie im Verhältnis zu Russland.
Abschließend möchte ich anregen, dass in diesem Haus und gegenüber Kommission, Rat und russischer Regierung endlich eine Debatte eröffnet wird über das strategische und institutionelle Ziel des politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisses zwischen der EU und Russland. Sicherlich wird es in vieler Hinsicht offen sein müssen, aber es gar nicht zu diskutieren und zu bestimmen, kann dazu beitragen, die derzeit weit offene Tür zu schließen.