Ohne Achtung der Menschenrechte kein EU-Beitritt der Türkei!
Rede von Feleknas Uca in der Debatte des Europäischen Parlaments am 13. Mai 2003 zur Durchsuchung des türkischen Menschenrechtsvereins in Ankara
Herr Präsident, Herr Kommissar, verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wieder einmal sind in der Türkei die Menschenrechte mit Füßen getreten worden. Unter Anwesenheit eines Vertreters der türkischen Generalstaatsanwaltschaft wurden die Büros des IHD in Ankara von den Behörden durchsucht und sämtliche Materialien beschlagnahmt.
Wieder einmal traf es die größte Menschenrechtsorganisation in der Türkei. Und wieder einmal diente der Terrorismusvorwurf als Vorwand. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Wie lange soll es so weitergehen? Ist das der Reformprozess der Türkei? Kann man noch ernsthaft glauben, dass es der Türkei darum geht, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen?
Die Fraktion der GUE/NGL protestiert entschieden gegen das Vorgehen der türkischen Behörden!
Die aktuelle Durchsuchung des IHD ist nur der bislang letzte Schritt in einer Serie von Übergriffen gegen die Menschenrechtsorganisation. Wir erinnern uns: Seit 1991 sind mehr als 10 IHD-Mitglieder ermordet worden. Im Mai 1998 wurde der Vorsitzende des IHD Akin Birdal in seinem Büro niedergeschossen. Bei den letzten Parlamentswahlen durften er sowie weitere HADEP-Vertreterinnen und -Vertreter nicht als Kandidaten antreten. Allein in den letzten beiden Jahren sind nach Angaben von amnesty international mehr als 400 Verfahren gegen den IHD eingeleitet worden. Hinzu kommen unzählige Verfahren gegen einzelne IHD-Mitglieder. Die Rechtsanwältin Eren Keskin, stellvertretende IHD-Vorsitzende, wurde jüngst mit einem einjährigen Berufsverbot versehen. Der Vorwurf immer wieder: separatistische Propaganda. Meine Damen und Herren: Sieht so ein neuer Umgang mit Menschenrechten in der Türkei aus?
Wir alle haben die Einleitung des Reformprozesses in der Türkei mit viel Sympathie verfolgt. Die Hoffnung auf eine neue Politik der türkischen Regierung war groß – sowohl in der EU, als auch insbesondere bei den Menschen in der Türkei. Doch bislang hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt.
Die Türkei muss ihre Politik an entscheidenden Punkten ändern – und zwar nicht nur formal, sondern auch in der Praxis. Erst dann ist die Perspektive eines Beitritts realistisch.
Problemfelder gibt es genug, das zeigen die letzten Monate.
Zu nennen wäre zum einen das Verbot der HADEP. Ein weiteres Verbot einer Partei, die sich insbesondere für die Belange der Minderheiten in der Türkei stark macht. Immer noch setzt die Türkei auf Parteiverbote, um die Stimmen derjenigen Menschen zum Verstummen zu bringen, die der Politik der Regierung kritisch gegenüber stehen. Mittlerweile droht auch dem DEHAP ein Verbot, also dem Parteizusammenschluss, in dem die HADEP bei den letzten Parlamentswahlen angetreten ist. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Sieht Demokratie und Meinungsfreiheit so aus?
Dann das Gerichtsverfahren gegen die ehemalige Abgeordnete Leyla Zana, deren Partei DEP ebenfalls verboten worden ist. Es ist zu begrüßen, dass es endlich eine Neuverhandlung gibt. Aber wie sieht diese aus? Bislang wirkt sie wie eine Wiederauflage des Verfahrens von 1994, das vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof als unfair eingestuft worden ist. Zwar gibt es nun keinen Militärrichter mehr, aber massive Militärpräsenz im Gerichtssaal. Eine Freilassung ist auch nach zwei Verhandlungstagen nicht in Sicht. Wir erinnern uns: Leyla Zanas Vergehen, das ihr ein Urteil zu 15 Jahren Gefängnis einbrachte, war ein in ihrer kurdischen Muttersprache gesprochener Satz im türkischen Parlament.
Dann die fortgesetzte Willkür der Behörden gegen Kurdinnen und Kurden. Sie sind auch nach den formalen Gesetzesänderungen weit davon entfernt, gleichberechtigt behandelt zu werden. Schikanen und pauschale Separatismusvorwürfe sind weiterhin gang und gäbe. Auch die Verwendung der kurdischen Sprache unterliegt immer noch deutlichen Einschränkungen. Von Bemühungen der Türkei, einen echten Demokratisierungsprozess in Gang zu setzen und unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte nach Lösungen für die vielfältigen Probleme zu suchen, ist weiterhin nichts zu merken.
Dann die Zustände auf Polizeistationen und in Gefängnissen. Wer in der Türkei inhaftiert wird, kann immer noch mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, misshandelt zu werden, insbesondere wenn es sich um Angehörige von Minderheiten handelt. Sexuelle Gewalt gegen Frauen in Polizeigewahrsam und Gefängnissen ist weit verbreitet. Elementare Rechte wie das Recht auf Kontakt zu Familienangehörigen und Anwälten werden oftmals nicht oder nur eingeschränkt gewährt – das prominenteste Beispiel ist hier Abdullah Öcalan, der seit Monaten so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt hat.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Man denke zum Beispiel an Zypern.
Meine Damen und Herren, aus all diesen Gründen muss man feststellen: Der Weg der Türkei nach Europa ist leider immer noch weit. Davon auszugehen, dass die Türkei ohne fundamentale Änderungen ihrer Politik auf Beitrittsverhandlungen mit der EU hoffen kann, ist eine Illusion. Eine Beitrittsperspektive für die Türkei wird es erst dann geben, wenn sie unter Beweis gestellt hat, dass sie die Kopenhagener Kriterien ernst nimmt. Die Türkei hat es in der Hand, durch ihre Politik zu zeigen, wie wichtig ihr der EU-Beitritt wirklich ist!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.