Zum Zwischenbericht der italienischen Ratspräsidentschaft zum Stand der Regierungskonferenz

Rede auf der Plenartagung des Europäischen Parlaments in Brüssel am 5. November 2003

Herr Präsident,

als ehemaliges Mitglied des Konvents muss ich schon sagen, dass ich mich wirklich wundere, was da gegenwärtig auf der Regierungskonferenz abläuft.

Man muss nur mal den „Vermerk des Vorsitzes“ (Dokument CIG 37/03) zur Hand nehmen. Was man da zu lesen bekommt, ist doch nicht zu fassen! Allein die bloße Auflistung der Änderungswünsche am Konventstext ist fast 20 Seiten lang!

Wissen Sie, ich kann mich angesichts dieser Liste des Eindrucks nicht erwehren, dass manche Regierungen den Konvent offensichtlich nicht ernst genommen haben. Denn wie anders ist zu erklären, dass die gleichen Regierungen, die den Konsens des Konvents unterstützt haben, jetzt diese Unmenge an Änderungen fordern?

Leider ist es ja so, dass in der Öffentlichkeit weitgehend nur über die Streitpunkte im institutionellen Bereich berichtet wird, über die Zahl der Kommissare oder die Mehrheiten im Rat. Das sind zweifellos keine unwichtigen Fragen, ein Zurück zu Nizza darf es aus meiner Sicht nicht geben!

Ich will außerdem klar sagen: Ich erwarte, dass die Regierungskonferenz, ebenso wie der Konvent, entschieden alle Versuche zurückweist, einen Gottesbezug in den Verfassungsvertrag aufzunehmen. Das individuelle Recht auf Religionsfreiheit ist durch Artikel 10 der Grundrechtecharta umfassend gewährleistet. Das ist auch gut und richtig. Aber die Menschen in der Europäischen Union per Verfassung in Gläubige und Ungläubige einzuteilen, nein, das darf es auf keinen Fall geben!

Nicht hinnehmbar wären für mich auch jegliche Rückschritte hinsichtlich der Rechte des Parlaments, insbesondere hinsichtlich der Haushaltsbefugnisse dieses Hauses. Wer hier die Axt anlegt, offenbart aus meiner Sicht ein gestörtes Verhältnis zu einem demokratischen Europa.

Ich habe mich im Konvent dafür engagiert, dass die Union sozialer wird. Ein Soziales Europa, das ist es, was die Bürgerinnen und Bürger zu Recht erwarten. Gerade in dieser Hinsicht hat die Union nach wie vor den größten Nachholbedarf. Und da staunt man schon, wenn in meinem Land von maßgeblichen Politikern vor dem Konventsentwurf gewarnt wird, weil er „ordnungspolitisch gefährlich“ sei oder wenn der Text aus Kreisen der Deutschen Bank kritisiert wird, weil der EU-Wirtschaftsordnung angeblich eine „Dominanz sozialpolitischer Ziele“ drohe.

Ich frage mich: Was wird die Regierungskonferenz eigentlich in diesem Bereich tun? Wird sie derartige Angriffe auf Fortschritte des Entwurfs zurückweisen? Und wie wird mit den Widersprüchen zwischen Teil III und Teil I verfahren werden?

Es ist politisch und rechtlich zwingend, die wirtschafts- und währungspolitischen Bestimmungen von Teil III an die grundlegenden Bestimmungen von Teil I anzupassen. Ich garantiere Ihnen: Niemand wird verstehen und schon gar nicht gutheißen, im Verfassungstext zwei unterschiedliche Wirtschaftsphilosophien vorzufinden: „soziale Marktwirtschaft“, „ausgewogenes Wirtschaftswachstum“ und „Vollbeschäftigung“ einerseits und andererseits „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ und lediglich ein „hohes Maß an Beschäftigung“.

All diesen Fragen müsste das Parlament wesentlich stärkere Aufmerksamkeit widmen. Aber ich sage das auch an die Adresse meiner Regierung: Statt Änderungsabstinenz zu üben, sollte sie sich auf der Regierungskonferenz vielmehr dafür einsetzen, dass die in Teil I verankerten sozialpolitischen Ziele eindeutig und unmissverständlich auch für Teil III gelten.