Debatte zum Verfassungsgipfel von Brüssel 12./13.12.2003

Rede von Sylvia-Yvonne Kaufmann, Plenartagung in Strasbourg, 16. Dezember 2003

Mit dem Fiasko von Brüssel befindet sich die Europäische Union zweifellos in einer schweren politischen Krise. Schon vor dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten ist die erweiterte Europäischen Union das erste Mal gescheitert. Dies ist ein Rückschlag für die europäische Integration.

Nur, woran lag das? Auf dem Gipfel in Brüssel stand eben nicht die Schaffung eines demokratischen, sozialen und friedlichen Europas im Zentrum. Vielmehr wurde um Macht und Einfluss geschachert. Es obsiegte erneut der nationalstaatliche Kleingeist, und es zeigte sich, dass Regierungskonferenzen eben ungeeignet sind, die europäische Einigung weiter voran zu bringen.

Auf dem Gipfel nahm die europäische Idee schweren Schaden – sie ist der eigentliche Verlierer. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt auch Gewinner. Zu ihnen gehören die USA. Sie sind es, die Europa in „alt“ und „neu“ spalteten, und es sind die USA, die von den Beschlüssen des Gipfels zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik profitieren, denn hier wurde die Waffentreue mit der NATO festgezurrt und Europa sicherheitspolitisch unter Kuratel der USA gestellt.

Ich bin für eine Europäische Verfassung, eine moderne, fortschrittliche. In diesem Sinne habe ich mich im Konvent engagiert. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, es sollte die Politik sehr bedenklich stimmen, dass – bildlich gesprochen – niemand auf die Straße ging und demonstrierte, um die Konventsverfassung zu verteidigen. Nur 38 % der Bürgerinnen und Bürger haben je etwas vom Konvent gehört und nur ein Bruchteil von ihnen kennt den Text.

Abgesehen davon – das eigentliche Problem liegt woanders: die Bürgerinnen und Bürger sind nicht davon überzeugt, dass ihre ureigenen Sorgen und Nöte im Mittelpunkt europäischer Politik stehen. Wie Recht sie damit haben, zeigt zum Beispiel die Tatsache, dass sich die gesamte Regierungskonferenz nicht ein einziges Mal mit dem Problem der inhaltlichen Widersprüche zwischen Teil III und Teil I des Konventsentwurfs befasste und ganz offensichtlich zwei entgegengesetzte Wirtschaftsphilosophien im Verfassungstext verbleiben sollten. „Soziale Marktwirtschaft“ zum einen, „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ zum anderen.

So werden Sie die Menschen für eine Europäische Verfassung nicht begeistern. Es ist eben nicht der neoliberalisierte gemeinsame Markt oder das gemeinsame Geld, sondern es sind nur die Bürgerinnen und Bürger, die auf lange Sicht den Zusammenhalt der Gemeinschaft garantieren. Das ist die wirkliche Lektion von Brüssel! Ich befürchte, dass sie wiederum nicht verstanden wird. Die Zeit des Nachdenkens, die Krise, sollte als Chance begriffen werden. Führen Sie die öffentliche Diskussion über das Projekt der Europäischen Verfassung und vor allem nehmen Sie sich der ernsthaften Kritiken am Verfassungsentwurf aus der Zivilgesellschaft an!