Rede vor dem Konvent: Zu den Schlußfolgerungen der Arbeitsgruppe XI „Soziales Europa“

Plenartagung des Konvents Brüssel 6. Februar 2003
Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe XI „Soziales Europa“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

vom Konvent muss die klare Botschaft an die Bürgerinnen und Bürger ausgehen, dass die Europäische Union nicht mehr nur ein Binnenmarkt mit Währungsunion ist, sondern auch eine Beschäftigungs- und Sozialunion angestrebt wird.

Die Arbeitsgruppe XI hat unter Leitung des Kollegen Katiforis konstruktiv und unter enormem Zeitdruck ihre Schlussfolgerungen erarbeitet. Sie legt insbesondere mit ihren Vorschlägen zur Neubestimmung der Werte und Ziele der Union ein gutes, vorwärtsweisendes Ergebnis vor. Diese Vorschläge sind voll und ganz zu unterstützen, ebenso die Schlussfolgerungen zur Stärkung der Zuständigkeiten der Union im Bereich des Gesundheitsschutzes.

Mehr Mut und Entschlossenheit brauchen wir aber bei der Umsetzung dieser Werte und Ziele.

1. heißt das mit Blick auf die Union der 25 und mehr Mitgliedstaaten: generelle Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit und Mitentscheidung des EP in allen Aspekten der Sozialpolitik bezüglich Artikel 137 oder der Nichtdiskriminierung (Artikel 13).

2. Bezüglich Artikel 137 Absatz 5 sehe ich den vollständigen Ausschluss der Gemeinschaftskompetenz in der Tat als überholt an. Ich denke vielmehr, dass es künftig möglich sein sollte, europäische Mindestvorschriften anzunehmen, zum Beispiel im Bereich des Arbeitsentgelts. Warum sollte es denn den Tarifparteien nicht möglich sein, auf europäischer Ebene auch solche Vereinbarungen einzugehen, die dann in Vorschriften umgegossen werden?

3. Ich bin ferner der Meinung, dass der Geltungsbereich verschiedener Regelungen revidiert werden muss. Dies betrifft zum Beispiel Artikel 42 (soziale Sicherheit bei Freizügigkeit), der auf sämtliche EU-Bürger/innen und in der EU ansässige Personen ausgedehnt werden sollte.

4. Dringend erforderlich ist außerdem die vertragliche Absicherung der Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten und ihrer Gebietskörperschaften hinsichtlich der Definition und Ausgestaltung der Daseinsvorsorge. So bedarf es mit Blick auf die Artikel 16, 86 und 87 EGV der ausdrücklichen Klarstellung, dass für den spezifischen Bereich der Daseinsvorsorge das Wettbewerbs- und Beihilfenrecht der Gemeinschaft nicht zur Anwendung kommt.

5. Wirtschaft, Beschäftigung, Soziales und Nachhaltigkeit sind bekanntermaßen sehr eng miteinander verflochten. Wenn die Politik Ergebnisse entsprechend unserer Werte und Ziele haben soll, dann ist es künftig notwendig, die Koordinierung dieser Politiken tatsächlich miteinander abzustimmen, und es bedarf auch vertragsrechtlich der Klarstellung, dass die Beschäftigungspolitik nicht der Wirtschaftspolitik untergeordnet ist, sondern dass beide Bereiche gleichgewichtig behandelt werden.

Abschließend liebe Kolleginnen und Kollegen, gestatten Sie, dass ich aus dem Bericht der Arbeitsgruppe zitiere: „Die europäische Politik im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zielt darauf ab, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich der Einzelne in der Gesellschaft möglichst frei entfalten kann, und zwar so, dass die freie Entfaltung jedes Einzelnen letztlich die Voraussetzung für die freie Entfaltung aller bildet.“

Damit greift die Arbeitsgruppe die zentrale Idee eines der größten deutschen Philosophen, Karl Marx, auf – eine Idee, die er hier in Brüssel vor 150 Jahren formulierte. Damit diese Aussage des Berichts, tatsächlich zur Realität wird, sollten wir sie als Leitgedanken der gesamten weiteren Arbeit des Konvents betrachten.

Brüssel, den 6. Februar 2003

Quelle:
http://www.sylvia-yvonne-kaufmann.de/konvent/beitraege/200302061700.html