Zwischen Luxemburg und Thessaloniki: Die Arbeiten des Europäischen Konvents dürfen nicht missachtet werden

Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann MdEP
Mitglied des Europäischen Konvents
Rede auf der Plenartagung des Europäischen Parlaments, Brüssel, 18. Juni 2003

Zwischen Luxemburg und Thessaloniki:
Die Arbeiten des Europäischen Konvents dürfen nicht missachtet werden

„Nicht perfekt, aber unverhofft.“ Diese Worte von Konventspräsident Valéry Giscard d’Estaing treffen ins Schwarze. Das Ergebnis des Konvents kann sich zweifellos sehen lassen, ungeachtet so mancher Kritik, die wohl jedes Konventsmitglied aus seiner Sicht vortragen könnte.

Bedeutsam ist jedoch, dass der Konvent im Ergebnis seiner Arbeiten ein gemeinsames Papier, ein Papier ohne Optionen, dem Gipfel von Thessaloniki vorlegen kann. Es sind in der Tat bedeutende Fortschritte erreicht worden, die aus meiner Sicht einen Meilenstein in der europäischen Integrationsgeschichte darstellen. Die Kollegen Méndez de Vigo und Hänsch haben die vielen Beispiele völlig zu Recht hervorgehoben. – Beiden möchte ich bei dieser Gelegenheit für ihre engagierte Arbeit als Vorsitzender der Delegation bzw. als Mitglieder des Konventpräsidiums herzlich danken. –

Die wichtigsten Fortschritte sehe ich im Bereich der Demokratie. So sind das Europäische Parlament und auch die nationalen Parlamente deutlich gestärkt worden. Darüber hinaus aber möchte ich die Einführung direktdemokratischer Elemente in die Verfassung durch das europäische Bürgerbegehren besonders hervorheben. Die Bürgerinnen und Bürger haben damit erstmals die Möglichkeit, sich selbst in die Ausgestaltung der Europäischen Union einzubringen, und ich hoffe sehr, dass sie davon engagiert Gebrauch machen werden. Vielleicht wird dies dazu beitragen, schrittweise eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen.

Auch ich unterstütze die Durchführung von Referenden über die Verfassung in all unseren Mitgliedstaaten. Ich möchte Sie darüber informieren, dass es dazu eine entsprechende Initiative im Konvents selbst dazu gibt, die von über 100 Mitgliedern unterzeichnet wurde.

In den verbleibenden Tagen wird noch intensive Arbeit zu leisten sein, um die Verfassung insgesamt fertig zu stellen. Anknüpfend an Teil I der Verfassung muss es nun darauf ankommen, vor allem das soziale Europa noch weiter auszubauen, insbesondere im Bereich von Mehrheitsentscheidungen und der Daseinsvorsorge.

Herr Präsident,
gestatten Sie, dass ich aufgreife, was Kollege Hänsch soeben sagte. Er meinte, die EU sei keine Weltmacht, hätte aber die Verantwortung einer Weltmacht. Mir geht es um den Begriff „Verantwortung“.

So unterstützenswert das Ergebnis des Konvents auch ist, so beängstigend finde ich das, was die EU-Außenminister soeben in Luxemburg absegneten: Erstmals droht die EU mit der Anwendung militärischer Gewalt gegen Länder, die Abrüstungsverpflichtungen ignorieren und Massenvernichtungswaffen verbreiten.

Natürlich zielt das nicht gegen die USA, die im Jahr 2001 beispielsweise den ABM-Vertrag einfach aufkündigten. Es ist noch nicht lange her, dass Außenminister Powell im UN-Sicherheitsrat drastisch die Gefahr von irakischen Massenvernichtungswaffen an die Wand malte. Dem folgte der Krieg – und Massenvernichtungswaffen wurden, wie Sie alle wissen, bis heute nicht gefunden.

Dass nun die EU-Außenminister ähnlich wie Powell argumentieren und sich offenbar der Bush-Doktrin anschließen wollen, macht mir Angst. In ihrer Erklärung heißt es zwar einschränkend, dass der UN-Sicherheitsrat bei den durch die EU angedrohten Maßnahmen eine „zentrale Rolle“ spielen sollte. Aber dies nimmt mir meine Angst nicht. Diese Erklärung widerspricht nicht nur dem Völkerrecht, sondern auch dem Verfassungsentwurf des Konvents.

In Artikel 3 Absatz 4 der Verfassung wird die Union zur strikten Einhaltung der Völkerrechts und zur Wahrung der Grundsätze der UN-Charta verpflichtet. Die Minister-Erklärung verstößt dagegen, denn laut Völkerrecht und UN-Charta ist die Androhung militärischer Gewalt zur Lösung von Konflikten untersagt.

Deshalb: es darf nicht sein, dass die Verfassung ausgehöhlt wird, noch bevor sie in Kraft ist.