Interview: „Die bisherige ESVP stellt einen Irrweg dar“
Antworten der PDS-Europaabgeordneten Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann, Mitglied des Europäischen Konvents, auf Fragen im Rahmen einer Magisterarbeit an der Freien Universität Berlin zur europäischen Verfassung und zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – Berlin/Brüssel, 25. Juni 2003:
Frage: Sind sie mit den Artikeln des Verfassungsentwurfs, die sich mit der Europäischen Verteidigungspolitik befassen, zufrieden?
Kaufmann: Nein. Leider setzt sich mit ihnen die Entwicklung der Europäischen Union hin zu einer Militärmacht fort.
Frage: Was fehlt noch? „European Civil Peace Corps“? Abrüstungsvorsorge? Verpflichtung zum Frieden? Verteidigungsministerrat? ESVU? „Mr. ESVP“?
Kaufmann: Leider fehlen Verfassungsbestimmungen, die eine klare Friedensverpflichtung der Europäischen Union zum Ausdruck bringen. Dazu gehören auch die von mir vorgeschlagenen Agenturen für Konversion und Abrüstung sowie für Rüstungsexportkontrolle. Der Begriff Abrüstung taucht nicht einmal auf.
Frage: Die ESVP soll ein Teil der GASP bleiben – richtig oder falsch?
Kaufmann: Richtig.
Frage: Führt die „Strukturierte Kooperation“ nicht zur „Elitenstrukturen“?
Kaufmann: Die Gefahr besteht.
Frage: Vergleicht man Ihre Vorschläge für den Europäischen Konvent (z.B. CONV 681/ 03) und das Finaldokument im Bereich Verteidigungspolitik: Fühlen Sie sich ignoriert?
Kaufmann: Tatsache ist, dass in diesem Bereich die allermeisten meiner Vorschläge schlicht ignoriert wurden. Das hängt aber auch damit zusammen, dass es in der Arbeitsgruppe „Verteidigung“ und im Konvent insgesamt einfach zu wenige Verbündete für eine zivile Europäische Union gab.
Frage: Im November haben die Außenminister Fischer und de Villepin eigene Vorschläge für den Konvent gemacht. Was ist ihre persönliche Meinung dazu?
Kaufmann: Diese Vorschläge sehe betrachte ich mit einem äußerst skeptischen Blick. Für mich sind sie keine Lösung für ein Europa von dem Frieden ausgehen soll und das sich selbst und seiner Außen- und Sicherheitspolitik eine Friedensverpflichtung auferlegt.
Frage: Wie kommentieren sie die Idee einer „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion“?
Kaufmann: Die Idee einer Verteidigungsunion finde ich durchaus diskutierenswert. Mit Verteidigung hat die deutsch-französische Initiative aber wirklich wenig zu tun.
Frage: Die deutsch-französischen Vorschläge für den Konvent präsentieren zwar interessante Ideen zur Entwicklung der ESVP, verlieren aber kein Wort über wichtige ESVP-Komponenten wie zivile Konfliktprävention und Krisenmanagement. Diese und weitere deutsch-französische Beiträge zur Entwicklung der ESVP scheinen zunächst sehr „militärisch“ und eindimensional geprägt zu sein. Wie kommentieren sie das?
Kaufmann: Es scheint nicht nur so, sie sind es. Im Kern zielen die Vorschläge darauf ab, autonom einsetzbare gemeinsame kerneuropäische Militärinterventionskapazitäten aufzubauen.
Frage: Wie kommentieren Sie als Konventsmitglied das April-Treffen der Regierungen Deutschlands, Frankreichs, Belgiens und Luxemburgs?
Kaufmann: Zunächst halte ich es durchaus für legitim, dass sich Regierungen treffen.
Frage: Welche Bedeutung hatte das Treffen?
Kaufmann: Im Nachhinein würde ich sagen – eher eine symbolische. Inhaltlich hat es durchaus auf die politischen Weichenstellungen im Konvent eingewirkt.
Frage: Alle anderen EU-Staaten seien herzlich willkommen gewesen, hieß es es fehlten allerdings die Einladungen. Wie bewerten Sie das?
Kaufmann: Einerseits ist dies keine ungewöhnliche Praxis in der EU. Andererseits ist ja allgemein bekannt, dass es divergierende Interessenlagen unter den EU-Mitgliedstaaten gibt.
Frage: Deutschland und Frankreich wollen wieder die treibende Kraft der europäischen Integration sein. Bei der weiteren Entwicklung der ESVP sind wichtige Schritte nicht ohne Großbritannien denkbar (z.B. Ablösung der WEU-Verpflichtungen). Wie passt das zusammen?
Kaufmann: Bisher gar nicht. Hier spiegelt sich lediglich die Spaltung in Europa, die angesichts des Angriffskrieges der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak deutlich geworden ist.
Frage: Wie wird sich die Lage nach der Osterweiterung ändern? Die „Wächter der transatlantischen Beziehungen“ werden eine große Rolle spielen. Im Jahre 2004 wird sich nicht nur die EU, sondern auch die NATO erweitern. Die MOE-Länder haben ihre Präferenzen klar gezeigt: Die EU ist ihnen vor allem aus ökonomischen Gründen wichtig, aber Sicherheit wollen sie durch die USA im Rahmen der NATO gewährleistet sehen. Die Harmonisierung von EU- und NATO-Mitgliedschaften geht weiter (Finnland und Schweden denken auch darüber nach). Wenn in einem Jahr die Mehrheit der EU-Mitglieder zur NATO gehört, macht dann die Idee der EU als Verteidigungsorganisation noch Sinn?
Kaufmann: Schon jetzt gehört die große Mehrheit der EU-Staaten zur NATO. Die Sicherheit der Europäischen Union einer Organisation, die von den USA als schwergewichtigem Nicht-EU-Mitglied dominiert wird, zu übertragen, hielte ich für die europäische Integration für fatal. Insbesondere auch aufgrund der neuen interventionistischen Ausrichtung der NATO.
Frage: Empfinden Sie das nicht als „Plan B“ falls die NATO den Sinn ihrer Existenz verliert?
Kaufmann: Es bahnt sich in der Tat längerfristig gesehen so etwas wie ein Konkurrenzverhältnis EU-NATO auf. Die NATO selbst hat für mich jede Funktion verloren. Sie sollte wie ihr Kontrahent, der Warschauer Vertrag, aufgelöst werden, um nicht in die derzeitige Lage zu geraten, sich verzweifelt neue Aufgaben suchen zu müssen.
Frage: Sind sie mit der Entwicklung der ESVP zufrieden?
Kaufmann: Nein. Die bisherige ESVP stellt einen Irrweg dar. Sie ist in erster Linie auf einen Militärinterventionismus gerichtet. Territorialverteidigung oder Konzepte der zivilen Konfliktprävention spielen keine oder lediglich eine untergeordnete Rolle.
Frage: Wird die EU mit der ESVP ihre Rolle in der Welt finden?
Kaufmann: Mit den vorliegenden Konzeptionen wird die EU außenpolitisch in noch schweres Fahrwasser geraten. Zudem droht ein Rüstungswettlauf auf der Ebene der Interventionskapazitäten mit den USA.