Europäische Interessen klar benennen!

André Brie, 13. März 2002, Rede im Namen der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken zu den ‚Transatlantischen Beziehungen‘, geschriebene Fassung

Sehr geehrter Herr Präsident, Herr Ratspräsident, Herr Kommissar, liebe Kolleginnen und Kollegen,

die transatlantischen Beziehungen, gemeint sind natürlich die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika, haben
zweifelsohne einen herausragenden Stellenwert für die Entwicklung und Gestaltung der gesamten Politik und der internationalen Rolle
der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. Die USA haben für das heutige Europa auch geschichtlich und insbesondere nach 1945
eine nicht zu überschätzende, vielfach widersprüchliche, aber in entscheidenden Fragen positive Rolle gespielt. Ein guter Zustand der
Beziehungen zu den USA hat ohne jeden Zweifel überragende Bedeutung für die EU und die Mitgliedsländer.

In dieser Hinsicht stimme ich im Grunde auch mit den Ausführungen des Ratspräsidenten überein. Das Problem besteht jedoch in
dem, was Sie, Herr Ratspräsident, nicht gesagt, was Sie unerwähnt ließen.

Ich verstehe die diplomatischen und politischen Zwänge, unter denen Sie, Herr Ratspräsident stehen, aber der Mangel an Offenheit und
Öffentlichkeit bei der Diskussion dieses strategischen Themas, der Bewertung und Gestaltung der europäisch-amerikanischen
Beziehungen ist inzwischen bedrohlich. Daher genieße ich die Freiheit, die mir meine politische Ferne zu jeder europäischen
Regierung erlaubt, zumal ich Feigheit vor dem Freund keinesfalls für einen Freundschaftsdienst halte. Schon gar nicht kann auf solche
Weise, die eigene, ganz und gar nicht kongruente Interessenlage artikuliert und realisiert werden.

Es fehlt in dreifacher Hinsicht der Mut zur öffentlichen Diskussion und zur Kritik. Erstens fehlt der Mut zur klaren Analyse der
bestehenden Situation für die Europäer. Von einer wachsenden Rolle der EU kann ganz und gar nicht mehr die Rede sein, im
Gegenteil.

Zweitens fehlt den Regierungen offensichtlich der Mut, neben der Übereinstimmung auch die Differenz mit den USA und die eigenen
Interessen und Ziele hinsichtlich der US-Politik zu definieren, vom Mut zu Kritik ganz zu schweigen.

Drittens gibt es nicht einmal den Mut, öffentlich einzugestehen, dass von einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik derzeit
kaum die Rede sein kann.

Es ist bezeichnend, dass nahezu das einzige Thema, bei dem eigene Interessen und kritische Worte öffentlich werden, die von den
USA verhängten Stahlzölle sind. Wenigstens die europäische Wirtschaft scheint nicht bereit zu sein, die Fehler und Rechtsbrüche der
amerikanischen Administration „uneingeschränkt zu unterstützen“.

Meiner Meinung nach ist eine sehr offene Diskussion der transatlantischen Beziehungen dringend notwendig. Es geht um äußerst
folgenschwere Veränderungen, unter denen die zollpolitischen Vertragsverletzungen charakteristisch, aber die harmlosesten sind. Die
USA verfolgen – gestützt auf eine ungeheure militärische Übermacht und qualitativ neue militärische Fähigkeiten – mit zunehmender
Konsequenz ein Konzept des Unilateralismus in der Weltpolitik und versuchen alle Bindungen, die sie dabei einengen, abzustreifen. Ich
zähle nur die Kündigung des ABM-Vertrages auf, die einseitigen und vertragswidrigen Erklärungen zum Nichtweiterverbreitungsvertrag
über Kernwaffen, die Blockade der B-Waffenkontrolle, die finanzielle Strangulierung der Kontrollorganisation zum C-Waffenabkommen,
die Ankündigung, den Weltraumvertrag faktisch zu zerstören, den Nichtbeitritt zum Internationalen Strafgerichtshof, die Missachtung des
humantären Völkerrechts (nicht nur hinsichtlich der Gefangenen in Guantanamo), den Ausstieg aus dem Klimavereinbarungen von
Kyoto, die einseitige Missachtung des internationalen Seerechts… Ganz zu schweigen von den gerade bekannt gewordenen
abenteuerlichen Kernwaffenplanungen der USA. Ich habe keine Illusion darüber, dass es in den USA und sicherlich auch in Russland
noch viel makabere atomare Einsatzkonzepte geben wird. Die aktuelle Veröffentlichung stellt jedoch zusätzlich eine unverantwortliche
Demütigung Russlands und Chinas dar, die sich gerade erst eilfertig der USA-Politik angeschlossen hatten.

Mir geht es nicht um ein Negativszenario. Aber außerordentlich deutlich wird, dass die europäische Politik sich ganz offenkundig doch
wesentlich von durchaus entscheidenden Positionen der USA unterscheidet. Die EU und ihre Mitgliedsländer müssen die
eigenständigen und differenten Interessen und Ziele klar benennen und real vertreten.

Ich hebe erstens den Multilaterismus hervor, insbesondere die Stärkung der UNO, die gleichberechtigte Einbeziehung Russland und
Chinas.

Zweitens halte ich den Versuch für falsch, aussichtslos und kontraproduktiv, den europäischen Einfluss dadurch wiederherzustellen
oder zu stärken, dass die EU sich an der neuen militärischen Hochrüstung beteiligt. Die Chance und Verantwortung der EU ist die einer
Zivilmacht. Sie wäre ganz und gar nicht eine Macht zweiter Klasse, sondern eine der Zukunft. Präventive Sicherheitspolitik, die
Orientierung auf eine demokratischere, eine sozialere, gleichberechtigtere und ökologische Gestaltung der internationalen
Beziehungen wird langfristig bei weitem Konstruktiveres in dieser Welt bewirken als militärische Hochrüstung.

Drittens plädiere ich für sehr ernsthafte Anstrengungen, eine tatsächliche gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu
entwickeln. Kommissar Patten hat dafür in jüngster Vergangenheit und in bemerkenswertem Kontrast zur Zurückhaltung und
Ängstlichkeit der Regierungen inhaltliche Anstöße gegeben, die meiner Meinung nach in die richtige Richtung weisen.

Der erste Schritt wären eine ehrliche Bestandsaufnahme hinsichtlich der europäisch-amerikanischen Beziehungen durch die
Regierungen und ihre öffentliche Diskussion. Das können, das müssen, das werden die Beziehungen zu den USA aushalten. Die
europäischen Differenzen mit dem aktuellen Kurs der USA müssen aus dem toten Winkel der derzeitigen Politik und der
Regierungserklärungen herausgeholt werden.