Das sorbische Volk im heutigen Europa

Hans Modrow

Rede des MdEP Dr. Hans Modrow auf der Konferenz am 03.12.2001 in Bautzen

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

zu dem mir vorgegebenen Thema ‚Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Kultur- und Bildungsautonomie aus europäischer Sicht‘
möchte ich einleitend zunächst Folgendes feststellen : Die europäische Minderheitenpolitik ist bei all ihrer historisch gewachsenen
Spezifik in das Völkerrecht eingebettet. Freilich ist das in der Charta der Vereinten Nationen erwähnte Selbstbestimmungsrecht der
Völker ehe als eine Grundlage der Beziehungen zwischen den Staaten gedacht und zielt weniger auf eine wie auch immer geartete
Autonomie innerhalb eines Staates. Folgte man dem dort vor allem in Artikel 1 Abs. 2 und Art. 55 gegebenen Grundsatz, wäre auch eine
positive Auslegung in Richtung Autonomie möglich. Aber eben nur möglich, bei weitem nicht zwingend. Die Sorben verstehen sich
selbst seit langem als Volk und werden verfassungsrechtlich, siehe Artikel 6 der Sächsischen Verfassung, auch so behandelt. Wenden
wir auf diese Verfassungslage die ‚Prinzipienerklärung‘ der UNO- Vollversammlung v0m 24. Oktober 1970 an, hätte auch das sorbische
Volk das Recht, ohne Eingriffe von außen über seinen politischen Status zu entscheiden und frei die Entwicklung, also auch die
kulturelle zu verfolgen. Der Staat wäre verpflichtet, dieses Recht in Übereinstimmung mit den Satzungsvorschriften zu achten.

1. Zu den wichtigen völkerrechtlichen Grundlagen

Nachfolgende völkerrechtlichen Dokumente, so die beide Internationalen Konventionen der UNO über Bürgerrechte und politische
Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus den Jahren 1966/67 sowie die Schlußakte von Helsinki knapp zehn
Jahre später verliehen den Minderheitenrechten als Teil der allgemeinen Menschenrechte einen höheren Stellenwert. Erwähnt sei hier
nur, dass in Artikel 27 der Konvention über bürgerliche und politische Rechte der Schutz des kulturellen Lebens und der Sprache der
Angehörigen von Minderheiten festgeschrieben ist. Mit diesen und anderen völkerrechtlichen Grundlagen wäre im Prinzip die Kultur-und
Bildungsautonomie des sorbischen Volkes ermöglicht, sie ist aber damit noch lange nicht gegeben.Zum ersten müsste – wie mir
scheint – das sorbische Volk selbst seine Optionen bestimmen. Das ist schon auch eine Aufgabe der Minderheit. Die heutige Konferenz
will dazu Impulse verleihen, Anregungen geben und auch Frage aufwerfen. Andererseits muss natürlich auch der Staat, der Freistaat
Sachsen, das Land Brandenburg und die Bundesrepublik, Wege zur Selbstfindung und Selbstbestimmung für das sorbische Volk offen
halten bzw. öffnen. Man nennt das heute gern die politischen Rahmenbedingungen.
Mit der deutschen Einheit war Deutschland auch auf dem Gebiet der Minderheitenpolitik herausgefordert. Aus verschiedenen Gründen:
Wegen der Rahmenübereinkunft zur Minderheitenpolitik und der Charta der Regional-und Minderheitensprachen, aber auch, wollen wir
es so benennen: wegen des erreichten Status der Sorben in der DDR. Die Sorben waren politischer Teil Westeuropas geworden, mit
all ihren Erfahrungen, Hoffnungen und Vorstellungen. Noch 1990 sahen die Vertreter der Sorben auf einem Arbeitstreffen der
Minderheiten Deutschlands ‚in den neuen gesellschaftlichen Bedingungen insgesamt eine Chance… die nationalen Interessen des
sorbischen Volkes besser als bislang zu verwirklichen‘. Die Hoffnungen richteten sich weniger auf Deutschland, das in buchstäblich
letzter Minute noch in eine Protokollnotiz zum Einigungsvertrag auch die sorbischen Belange aufnahm, als vielmehr auf Europa.

2. Zur Bedeutung der sorbischen Sprache

Natürlich lässt sich – das haben schon die von mir erwähnten völkerrechtlichen Bezüge gezeigt und darin sind wir uns vielleicht auch
einig – das Thema der heutigen Veranstaltung nicht allein auf die Bewahrung und Förderung der sorbischen Sprache reduzieren.
Allerdings ist die sorbische Sprache für die kulturelle und ethnische Identität eine der wichtigsten Säulen. Sorbische Sprache im
Schulwesen, in der Öffentlichkeit, im Umgang der Sorben miteinander, in Behörden, Repräsentanz und Akzeptanz der sorbischen
Sprache im Siedlungsgebiet des sorbischen Volkes- das alles und noch viel mehr gehört zum Bild des Sorbischen vor dem
europäischen Hintergrund. Dieser Hintergrund ist geprägt vom wachsenden Gespür für die Vielfalt und den Reichtum des
europäischen sprachlichen und kulturellen Erbes , wenngleich dieser Hintergrund so einheitlich nicht ist.
Die Sorben gehören dank verschiedener historischer Umstände zu den kleinen Völkern und Volksgruppen, die von Gesetzes wegen
ihre sprachliche Identität wahren können, und dafür aber von Europa notwendige Sicherheiten erhalten wollen. Auf der Suche nach einer
effektiven Form der Förderung kultureller und sprachlicher Belange des sorbischen Volkes sind wir auch mit unserer Konferenz : Die
nachfolgenden Vorträge werden sich dazu unterschiedliche Aspekte erhellen.

3. Europäische Politik und Minderheitenfragen

Die europäische Politik hat sich zunehmend der Fragen der Minderheiten angenommen. Einige Teilerfolge konnten erreicht werden. Ein
wichtiger Schritt in dieser Richtung wurde 1981 gegangen, um auch pro domo zu sprechen, als das Europäische Parlament seine erste
Resolution zu Minderheitensprachen verabschiedete. 1992 fasste dann ein neuer Text die verschiedenen Vorstellungen, die sich
gebildet hatten, zusammen : Die bereits erwähnte Europäische Charta für Regional-und Minderheitensprachen , beschlossen durch
den Europarat, war entstanden. Wichtige Entschließungen der Europaparaments beförderten diese Entwicklung in der
Minderheitenfrage bzw. vertieften sie wie die Resolution von Killilea ( Februar 1994 ) über sprachliche und kulturelle Minderheiten. Darin
wird betont, dass ‚ die Mitgliedsstaaten ihre sprachlichen Minderheiten anerkennen und für sie die erforderlichen rechtlichen und
administrativen Bestimmungen erlassen müssen, um die Grundvoraussetzungen für die Erhaltung und Entfaltung dieser Sprache zu
schaffen‘. Die vertragliche Grundlage dafür gab die Europäische Charta für Regional-und Minderheitensprachen.

4. Zur Lage des sorbischen Volkes

Der ‚ Crostwitzer Aufstand 2001‘ hat ein Signal gesetzt: Die großen Versprechungen der sächsischen Verfassung, einer Verfassung, die
in bezugt auf die sorbischen Mitbewohner Sachsens rechtlich durchaus respektabel ist, werden nicht im erforderlichen Maße
eingehalten . Dieses Signal aus der recht kleinen sorbische Gemeinde hatte ein fast europaweites Echo. Von der Russischen
Staatsduma über den polnischen Senat und das Parament und die Regierung Tschechiens in Osteuropa und bis nach Japan auf der
einen Seite und bis nach Großbritannien auf der anderen Seite reichte die Sympathie mit dem sorbischen Volk.
Das Schicksal der sorbischen Kultur, Sprache und Bildung ist keine regionale oder allerhöchstens sächsische oder brandenburgische
Angelegenheit mehr. Ein ziemlich reichhaltiges, wenn auch noch nicht immer schon wirklich verpflichtendes europäisches Vertragswerk
hat das mit bewirkt. Die Sächsische Verfassung steht dem nicht im Wege , denn ausgehend vom Volksbegriff versucht die Verfassung ‚
die Rechte der Sorben aus ihrer Stellung als gleichberechtigter Teil des Volkes des Freistaates Sachsen abzuleiten‘. Das verführte
allerdings auch zu eigenwilligen Auslegungen, etwa in der Art, mit der Verfassung wären alle sorbischen Belange geregelt und es sei
kein gesondertes Gesetz nötig. Wollte die CDU- Mehrheit des Landtages vor Jahren gar ein Sorbengesetz verwehren und musste sie
sich schließlich einem allgemeinen Druck und dem Druck der Opposition des Landtages selbst beugen, so ist nun die Interpretation
des Gesetzes der Hauptpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Landtagsmehrheit und Opposition. Was nicht zuletzt eben auch mit
Crostwitz zutage kam. Die Zugehörigkeit zum sorbischen Volkes wurde bereits in der DDR durch das freie Bekenntnis zur Nationalität
freigestellt. Das klang damals für Europa recht gut und wurde von der UNO lobend erwähnt. Dieses Prinzip wurde auch in das neue
Sorbengesetz aufgenommen. Das erfordert allerdings, wie in einer Festschrift der PDS- Fraktion zum 5. Jahrestag der Sächsischen
Verfassung betont wurde, dass ‚ für das freie Bekenntnis der Rahmen weit gezogen ist, wenn also das Sorbische in der allgemeinen
Öffentlichkeit seinen Wert als Bereicherung für das Leben in der Lausitz hat, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen nicht
die Sorben aus ihrem Siedlungsgebiet auf der Suche nach Arbeit und Brot in die nichtsorbische Ferne verdrängen, wenn äußere
Zeichen wie Zweisprachigkeit symbolhaft und anregend den wahren, mehr inneren Wert von Nationalität verkünden‘. Die Pflege und
öffentliche Präsenz der sorbischen Sprache wird unterschiedlich bewertet. Das ist auch vom Wissen über die Sorben abhängig, und
von der Fähigkeit zur spezifschen Sicht. Man mag der Publikation des Europäischen Büros der Minderheitensprachen zustimmen oder
nicht, zur Überlegung anregend ist die Feststellung wohl doch: ‚ Einerseits wurde ihr ( der sorbischen Sprache) der Status einer
offiziellen Sprache neben dem Deutschen bei den Kontakten mit den Behörden und der öffentlichen Verwaltung der sorbischen
Gemeinden zuerkannt, andererseits ist es aufgrund des Mangels an qualifiziertem Personal nicht immer möglich, sich ihrer auch
tatsächlich zu bedienen.‘ Zur Lage der Sorben werden wir noch aus landespolitischer Sicht und aus der Sicht des sorbischen Volkes
selbst Vorträge hören, so dass es mir nur obliegt, einiges über die Lage des sorbischen Volkes als Teil der Vielfalt ethnischer
Minderheiten in Europa zu sagen. Es liegt nicht allein an der geografischen Lage des Siedlungsgebietes der Sorben, sondern auch am
oft qualvollen Erfahrungsschatz, den sie Sorben in ihrer Geschichte im Verhältnis zur Obrigkeit, zur Mehrheitsbevölkerung und zum recht
und zur Demokratie zusammentrugen, dass die Frage der Pe4rspektive des sorbischen Volkes weit über Deutschland hinaus Interesse
findet. So liegt das Sorbenland nicht nur geografisch in der Mitte Europas, auch die Sorbenfrage steht minderheitenpolitisch im
Mittelpunkt europäischer Überlegungen zu Möglichkeiten des Schutzes und der Förderung von ethnischen und sprachlichen
Minderheiten.

5. Schritte und Wege zur Kultur- und Bildungsautonomie

Es wäre zu einfach sagen zu wollen: Das sorbische Volk wird eine wie auch immer gestaltete Autonomie in Kultur. und Bildungsfragen
erhalten, wenn es dies nur selber fest will. Was zählt schon in der Politik die Meinung und Haltung eines so kleinen Volkes gegen ein
um Vielfaches größeres Mehrheitsvolk und gar gegen eine absolute Mehrheit einer Partei, die sich erkennbar gegen Ansätze einer
Selbständigkeit in Kultur und Bildung des sorbischen Volkes sperrt und wehrt.
Minderheitenpolitik kann nur dann konfliktarm gestaltet werden, wenn Demokratie entwickelt wird. Zu Recht verwies die Mitte November
in Berlin veranstaltete Konferenz zu Minderheiten- und Regionalsprachen . als ein resümierendes Forum zum Abschluß des
Europäischen Jahres der Sprachen, auf den unverwechselbaren Zusammenhang von Demokratie und Sprache. Wiederum stehen
Demokratie und Autonomie im kausalen Verhältnis. Das Prinzip der vollen nationalen Gleichberechtigung in allen Formen, wobei die
Autonomie nur eine der möglichen, bei weitem nicht die einzige ist, war und bleibt Voraussetzung für wirkliche Wahrung der rechte der
nationalen Minderheiten. Das Prinzip gilt allgemein, Freilich ist es dort einfacher durchsetzbar, wo die Minderheit in ihrem
Siedlungsgebiet die Mehrheit stellt. Bei sorbischen Volk ist das bekanntlich nicht der Fall. Jeder Versuch aber, die Intensität der
Minderheitenrechte und der Förderung der kulturellen und sprachlichen Belange vom demografischen Faktor abhängig zu machen,
beschädigt die Mehrheitsbevölkerung genau so wie es der Minderheit schadet. Der sorbischen Schulstreit diesen Jahres ist geradezu
ein Beleg dafür, dass Minderheitenpolitik in ihrer Gesamtheit gesehen und betrieben werden muss, also nicht wie in Sachsen,
allgemein und auch im einzelnen die sorbischen Sprache gefördert wird, aber deren Rahmenbedingungen dort, wo entscheidenden
Grundlagen für aktives Sprachbewußtsein gelegt werden, nämlich im Schulwesen, andere Kriterien Gültigkeit haben.Wird
Minderheitenpolitik so betrieben, bleibt sie Stückwerk und kann nach Belieben ausgehöhlt werden. Selbstredend erstreckt sich die
völlige rechtliche Gleichsetzung und wirksame Gleichberechtigung auf alle Gebiete des gesellschaftlichen Daseins. Das heißt :
Minderheitenpolitik erstreckt sich auf die Wirtschaft und die Politik ebenso wie auf die besonderen sprachlichen und kulturellen
Interessen und Belange. Aber dennoch :Die Förderung von Sprache und Kultur des sorbischen Volkes ist eines der wichtigsten Indizien
für eine minderheitenfreundliche Politik.
Ich selbst führte als Ministerpräsident der DDR Anfang 1990 über dieses komplexe Thema mit Vertretern des sorbischen Volkes ein
umfangreiches Gespräch. Die teilweise, will sagen weitgehende Nichtbeachtung der Vorschläge der Sorben selbst und das
Ausschlagen von Hinweisen, die in der DDRE nach 1989 gemacht wurden, führte zu einer anfänglich offenen staatsrechtlichen Situation
der Sorben. Mittlerweile ist einiges geschehen.: Die Verfassungen der Bundesländer Sachsen und Brandenburg erhoben die Wahrung
der rechte des sorbischen Volkes auf den Verfassungsgrundsatz, die so genannten Sorbengesetze von Brandenburg und Sachsen
führen dies auf Gesetzesebene fort, die Stiftung für das sorbische Volk ist rechtskräftig als öffentlich- rechtliche Einrichtung, die
Bestimmungen zur Sorbenpolitik in anderen Gesetzen und Verordnungen füllen einen ganzen Sammelband. Und dennoch ist die
gegenwärtige Rechtslage der Sorben an mehrerlei zu messen: am internationalen, also besonders europäischen Standard, am
Rechtsstatus der Sorben in der DDR und an den, ich verwies bereits darauf, von den Sorben selbst in den Jahren 1989 und 1990
formulierten Vorstellungen und Forderungen.
Ich selbst habe als Europaparlamentarier im Frühherbst die Vorgänge in Crostwitz zum Anlass genommen, um in einer schriftlichen
Anfrage an die EU- Kommission zunächst auf sie aufmerksam zu machen und ihre Haltung dazu in Erfahrung zu bringen. In ihrer
Antwort vom 23. November verweist die Kommission zunächst auf die bekannten völkerrechtlichen Dokumente und auf eine Reihe
anerkennenswerter Schritte der EU zum Schutz der rechte von Angehörigen von Minderheiten. Sie weicht dann allerdings einer
konkreten Antwort auf meine konkrete Frage aus, wie sie die Tatsache betrachtet, dass in Sachsen sorbischsprachige Schulen gegen
den ausdrücklichen Wunsch der Elternschaft, der sorbischen Kommunen und der Interessenvertreterin des sorbischen Volkes, der
Domowina, geschlossen werden. Im Grunde tut die Kommission so, als ob in dieser Hinsicht im Sachsenland alles in Ordnung sei.
Meines Erachtens liegt hier noch größerer Klärungsbedarf gegenüber der Kommission.
Wie bereits betont, muss die Entscheidung über einen Weg zu einer Kultur-und Bildungsautonomie vom sorbischen Volkes selbst
getroffen werden. Ist sie bejahend getroffen, ist umfangreiches politische Handeln geboten : auf Bundesebene, in den beiden
Bundesländern, im sorbischen Bereich. Es geht ja nicht um eine Notlösung, es geht schließlich um eine Zukunftslösung. Auf der Suche
nach einer für künftige Zeiten tragfähigen Lösung nahm der Gedanke der Bildungs-und Kulturautonomie stärker Konturen an. Sollte
man diesen Weg gehen wollen, ist viel Verständigung unter den politische Kräften, ist manche Selbstverständigung bei den Sorben
nötig. Fragen über Fragen. Was heißt unter den konkreten Bedingungen des sorbischen Volkes Kultur-und Bildungsautonomie ? Wie
wäre sie zu gestalten, welche Struktur-und Organisationsformen müßte sie haben, wie soll die Selbstverwaltung in Bildung und Kultur
strukturiert und organisiert sein, welche verfassungsrechtlichen und gesetzgeberischen Schritte sind zu gehen ?
Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, darauf Antworten zu suchen. Möge die heutige Konferenz dazu ein guter Impulsgeber sein.