2. Sitzung des Europäischen Konvents

Rede von Sylvia-Yvonne Kaufmann in Brüssel, 21.03.2002

Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen,

Ich sehe die einzigartige Aufgabe dieses Konvents darin, die Kluft zwischen dem „fernen Europa“ und seinen Menschen zu schließen,
um

– die europäische Einigung unumkehrbar werden zu lassen und um
– das Integrationsfundament der EU beitritts- und zukunftsfähig zu gestalten.

Unser gemeinsames Ziel sollte sein, einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten, dessen Kern die Grundrechtecharta bildet. In der
Stärkung der individuellen Rechte jeder Bürgerin und jedes Bürgers, und zwar einklagbarer Rechte, liegt für mich ein zentraler
Schlüssel für dieses Ziel.

Wir alle wissen, dass wir konkrete Vorschläge für die künftige Machtverteilung in der Union vorzulegen haben, zwischen den
Institutionen Europaparlament, Rat und Kommission ebenso wie zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten. Wichtig ist für mich,
dass

– das Europäische Parlament das volle Mitentscheidungsrecht erhält,
– das Vetorecht im Rat maximal reduziert und die Kommission gestärkt wird, sowie
– weitere Politikbereiche vergemeinschaftet und die Kompetenzen von Union und Mitgliedstaaten sichtbar werden.

Ich bin überzeugt, die Bürgerinnen und Bürger werden die gesamteuropäische Integration nur dann unterstützen, wenn sie
demokratisch und transparent ist.

Aber – liebe Kolleginnen und Kollegen, so bedeutsam konstitutionelle Fragen für Europa auch sind – sie reichen bei weitem nicht aus,
damit Bürgerinnen und Bürger ein „starkes und deutliches Zugehörigkeitsgefühl zu Europa entwickeln“ wie unser Präsident in seiner
Eröffnungsrede ausführte.

Die Menschen müssen vielmehr im Alltagsleben erfahren können, dass Europa mehr ist als Binnenmarkt, gemeinsames Geld und
gelegentlich grenzenloses Reisen. Europa muss für sie da sein. Europa muss mit spürbaren Verbesserungen ihrer Lebensqualität
verbunden sein. Armut und Massenarbeitslosigkeit gehören nicht ins Europa des 21. Jahrhunderts. Deshalb brauchen wir die
Entwicklung der Europäischen Union hin zur Sozial- und Beschäftigungsunion. Ich bin dafür, das Sozialstaatsgebot in einer
europäischen Verfassung zu verankern, ähnlich wie in der französischen Verfassung. Die Zukunft der Union liegt in der
Weiterentwicklung des europäischen Sozialmodells und weniger darin, ob sie ein Staatenverbund bleibt oder rasch zu einer Föderation
der Nationalstaaten wird.

Als eines der wenigen weiblichen Mitglieder steht für mich auch die Frage der Gleichstellung der Geschlechter ganz oben auf der
Prioritätenliste. Wir alle wissen: von der Gleichheit der Geschlechter wird viel geredet. Doch die Realität sieht nach wie vor anders aus.
Nicht einmal das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist durchgesetzt. Und wenn ich mich hier im Saal umschaue und die wenigen
Kolleginnen sehe, dann wird offensichtlich, dass wir noch einen sehr weiten Weg zu gehen haben.

Ich setze darauf, liebe Kolleginnen und vor allem liebe Kollegen, dass wir uns in unserer gemeinsamen Arbeit in jeder Hinsicht von
Geist und Buchstaben von Artikel 23 der Grundrechtecharta „Gleichheit von Männern und Frauen“ leiten lassen.