Zur Osterweiterung der EU

Hans Modrow

Redebeitrag von Hans Modrow auf Plenum in Straßburg vom 12. Juni

Herr Präsident!

Die Erweiterung der EU tritt in ihre entscheidende Phase. Die vorliegende Berichte und Reden verschweigen offene Fragen nicht,
sprechen sich jedoch für die Aufnahme der Bewerberländer aus. Ein Standpunkt, den unsere Fraktion auch teilt. Wie es scheint, gibt es
beim Stand der Verhandlungen und der Übernahme des gemeinsamen Besitzstandes dann keine anderen Alternativen.
Betrachtet man jedoch die Qualität der Integration und die in der EU selbst auftretenden Probleme, kann zu anderen Überlegungen
kommen.

So hält es meine Fraktion nicht für richtig, dass im Rahmen des Beitrittsprozesses den Bewerberstaaten nachdrücklich empfohlen wird,
dem militärischen Bündnis der NATO beizutreten. Es geht hier um die EU – und nicht um etwas anderes !

Die EU stellt Ansprüche an die Beitrittskandidaten, die in vielen ihrer Mitgliedsländer selbst nicht erfüllt sind. Der Reformstau innerhalb
der Union ist enorm. Die Bereitschaft zur solidarischen Teilung ist nicht gerade ausgeprägt. Die Zustimmung unter den Bürgern zum
Beitritt ist in letzter Zeit im Sinken begriffen. Die Ursachen dafür allein bei Unkenntnis und fehlender Transparenz zu suchen, scheint uns
zu einfach. Die Europa-Debatte der Bürger, die nach Nizza gefordert wurde, ist doch in einem wirklichen Umfang nicht in Gang
gekommen. Dabei wiegen die Lasten, die mit dem Anpassungsprozess an die EU verbunden sind, noch schwerer.

In den Berichten werden die Kandidaten zu Recht aufgefordert, noch entschiedener den Kampf gegen Korruption zu führen.
Verschwiegen werden aber die Ursachen und Quellen, die beispielsweise in der kapitalistischen Privatisierung und den wachsenden
sozialen Gegensätzen zwischen dem wachsenden Reichtum Weniger und der Armut und der Arbeitslosigkeit sehr Vieler liegen.

Wie wenig die strategischen Positionen der Kommission für den Beitritt greifen, zeigt sich am deutlichsten in der Landwirtschaft. Wer
rechtzeitig warnte, dass die Agenda 2000 realitätsferne Elemente birgt, wurde als Miesmacher hingestellt. Die in der Debatte
beschworenen 5 Prozent, die angeblich nur noch offen sind, haben für die Landwirte ein vielfaches Gewicht und sind nicht nur Fünf von
Hundert !

Wer aber meint, bis auf die Agrarpolitik sei der Prozess der Erweiterung um bis zu 10 neue Staaten gelöst, ist meiner Meinung nach
naiv. Das Feld sozialer Ungleichheit ist viel größer, die Bereitschaft zur Solidarität viel geringer und die Arbeit der Kommission in
zahlreichen Bereichen viel zu oberflächlich und bürokratisch, um den neuen Ansprüchen an Integration gerecht zu werden. Nicht wenige
wesentliche Fragen sind offen. Eine Trendwende ist nötig. Hoffentlich kommt sie zur rechten Zeit.