Plenartagung des Konvents, Brüssel 7.11.2002

Rede der PDS-Europaabgeordneten Sylvia-Yvonne Kaufmann

Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe „Economic Governance“ entlang der Wirtschaftsthemen haben erneut gezeigt, welch großen
Diskussionsbedarf es gibt. Ich habe einen detaillierten Beitrag zu dem Thema eingereicht und möchte daher nur kurz auf verschiedene
Fragen eingehen.

Wenn die erweiterte EU wirtschaftlich prosperieren, demokratisch und sozial sein soll, dann müssen sowohl ihre Ziele, Aufgaben und
Kompetenzen als auch ihre Instrumentarien bis hin zum Wechselspiel zwischen Rat, Kommission und Parlament zielgerichtet so
gestaltet werden, dass dies bestmöglichst erreicht werden kann.

Ich meine, die in einer Verfassung zu verankernden wirtschaftlichen und sozialen Ziele sind konstitutiv für die gemeinsame europäische
Politik. Europa kann und darf nicht auf Binnenmarkt und gemeinsames Geld reduziert werden. Es geht gerade unter den Bedingungen
der Globalisierung darum, ob und wie Massenarbeitslosigkeit, Armut, und soziale Ausgrenzung künftig gemeinsam bekämpft werden.
Gerade hier, so sagt uns insbesondere das Mandat von Laeken eindeutig, wollen die Bürgerinnen und Bürger endlich Fortschritte
sehen. Hier gibt es großen Reformbedarf und es geht darum, die bisherige Schieflage zu Lasten eines Sozialen Europa zu überwinden.

Der Verfassungsvertrag muss deutlich machen, dass die Europäische Union das europäische Sozialmodell mit starker Sozial- und
Wohlfahrtstaatlichkeit und mit solidarisch umverteilenden sozialen Sicherungssystemen erhalten und stärken will. Deshalb gehört das
in den meisten Staaten als Verfassungsgrundsatz anerkannte Sozialstaatsprinzip in den Verfassungsvertrag. Der u.a. in Artikel 4
EG-Vertrag fixierte Grundsatz, der die EU lediglich als „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ definiert, muss dringend korrigiert
werden. Dazu gehört: die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge aus dem Wettbewerbsrecht zu nehmen, die Verhinderung von
Steuerdumping, die Stärkung des sozialen Dialogs etc.

Wie notwendig die Einrichtung einer Arbeitsgruppe „Soziales Europa“ ist, hat nicht zuletzt der Vorentwurf des Verfassungsvertrags des
Präsidiums in aller Deutlichkeit offenbart. Es ist für mich schlicht unbegreiflich, dass unter den gemeinsamen Werten die Solidarität
nicht mehr auftaucht und unter den Zielen substantielle Ziele wie die Gleichstellung der Geschlechter völlig unter den Tisch gefallen
sind.

Herr Präsident,

außerhalb dieses Raumes gibt es ein sehr großes öffentliches Interesse an unserer heutigen Debatte. Es liegt zum Beispiel eine
„Gemeinsame Erklärung für eine Europäische Union der Solidarität“ vor, die von fast 200 Einzelpersönlichkeiten sowie Vertreterinnen
und Vertretern zahlreicher Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen unterzeichnet wurde. Sie alle, viele Menschen erwarten
heute eine positive Entscheidung des Konvents zur Einrichtung der Arbeitsgruppe Soziales Europa. Enttäuschen wir die Bürgerinnen
und Bürger nicht.