Ohne Wenn und Aber: Dieser Krieg muss verhindert werden!

André Brie, Rede im Namen der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken in der Irak-Debatte des Europäischen Parlaments am 4. September 2002

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,

das im Irak herrschende Regime ist ohne Zweifel diktatorisch und tritt die Menschenrechte mit Füßen. Sadam Hussein hat
verbrecherische Krieg gegen den Iran, Kuweit und die eigene Bevölkerung geführt, dabei auch chemische Waffen eingesetzt. An diesen
Tatsachen kommt keine Einschätzung vorbei. Es sind jedoch mindestens drei weitere Tatsachen zu ergänzen, die auch in diesem
Haus allzu sehr vernachlässigt werden:

Erstens ist der Irak in der Vergangenheit vor allem durch den Westen massiv aufgerüstet worden.

Zweitens wurde die Aggression gegen den Iran von den USA und den meisten westeuropäischen Staaten wohlwollend toleriert und der
irakische Einsatz von chemischen Waffen ignoriert und sogar geleugnet, weil man sich eine Schwächung des Ayatollah-Regimes im
Iran wünschte. Erst als Sadam Hussein begann, sein Militärpotenzial auch für Interessen zu nutzen, die nicht amerikanischem Kalkül
entsprachen, begann der Westen Aggression Aggression, Diktatur Diktatur und Kriegsverbrechen Kriegsverbrechen zu nennen.

Drittens: Hussein ist ein unappetitlicher, militärisch inzwischen aber auch geschwächter Diktator. Einige US-amerikanische Verbündete
im angeblichen Kampf gegen den Terrorismus unterscheiden sich von ihm jedoch kaum. In Pakistan herrscht ein Folterregime, das
über Kernwaffen verfügt und eine Kernwaffenstrategie hat, die jener der USA frappierend ähnelt, ein Regime, das aggressiv und
gefährlich nach außen agiert hat. Das saudische Regime, das Präsident Bush vor wenigen Tagen bei einem Treffen auf seiner Ranch
mit Prinz Bandar bin Sultan penetrant hofiert hat, zählt zu den reaktionärsten auf diesem Erdball überhaupt.

Ich nehme eine Schlussfolgerung vorweg: Wer wirklich Demokratie, Menschenrechte, Sicherheit will, sollte nicht nach Krieg zu ihrer
Durchsetzung rufen, sondern die machtpolitische Doppelzüngigkeit der eigenen Politik überwinden, die die Glaubwürdigkeit der
verkündeten Ziele ad absurdum führt. Ich bin überzeugt, dass dann viele Konflikte und Gefahren, auf die angeblich nur mit Krieg
geantwortet werden kann, gar nicht erst entstünden.

Damit ist auch die entscheidende Position meiner Fraktion benannt: Wir lehnen einen Krieg gegen den Irak prinzipiell ab. Er wäre mit
dem ersten Schuss und unter allen Umständen ein Verbrechen.

Ich halte andere heute genannte Gründe für eine Ablehnung dieses Krieges ebenfalls für bedeutsam und hebe hervor:
1. Dieser Krieg könnte die Pulverschnur in den explosivsten und komplex mit einander verwobenen Regionen des Planeten entzünden
und unheilvollste langfristige Folgen für das Verhältnis zur arabischen und islamischen Welt haben.

2. Die USA würden diesen Krieg militärisch sicherlich rasch gewinnen, aber sie würden unkalkulierbare politische und wirtschaftliche
Folgen verursachen.

3. Dieser Krieg würde einen klaren Bruch des Völkerrechts und möglicherweise die endgültige Demontage der UN-Charta bedeuten.

4. Es gibt keinerlei Konzept für eine integrative und demokratische Entwicklung des Irak.

Es unterscheidet aber offensichtlich die Position der europäischen Linken von einigen anderen in diesem Haus, dass es eben nicht
diese Gefahren und ungelösten Probleme sind, die uns zu einem Nein zu diesem vorbereiteten Krieg veranlassen, sondern die
grundsätzliche und uneingeschränkte Ablehnung von Krieg als Mittel der Politik. Im Vordergrund steht für mich jedoch die Aufgabe und
die reale Chance, dass dieser Krieg verhindert wird. Deshalb begrüße ich die breite Kritik an den Plänen der USA unabhängig von der
jeweiligen Motivation.

Dem gegenüber steht die unbefriedigende, wenig konkrete und wenig wirkungsvolle Position des jüngsten EU-Außenministertreffens.
Meiner Meinung nach hat die Europäische Union gemeinsam mit anderen Staaten und Staatengruppen eine historische Verantwortung
und Möglichkeit, die USA zu stoppen. Es wäre die Stunde einer Außen- und Sicherheitspolitik, die das Attribut „gemeinsam“ verdienen
würde. Davon ist leider wenig zu spüren. In ihrer bislang verantwortungsvollsten Situation befindet sich die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik der EU in einer tiefen Krise! Eine Politik auf der Grundlage des derzeit kleinsten gemeinsamen Nenners wird die USA
unzureichend beeindrucken, ganz einfach weil dieser Nenner unverantwortlich groß ist.

Das Verhältnis zu den USA bleibt eine oder die strategische internationale Achse europäischer Außenpolitik. Aber eine Emanzipation
von einem USA-Kurs, der sich mir immer mehr als Amoklauf gegen das Völkerrecht, das internationale Rüstungskontroll- und
Abrüstungssystem und kooperative internationale Beziehungen überhaupt zeigt, ist zum einen erforderlich, um Völkerrecht, Sicherheit,
Stabilität, Demokratie in der Welt zu fördern. Sie ist zum anderen notwendig, um europäische Interessen zu gewährleisten, die durch
den USA-Kurs sehr ernsthaft gefährdet sind.

Eine gemeinsame europäische Politik und eine so verstandene Emanzipation von den USA werden unter diesen Umständen geradezu
ein Wert an sich. Das bedeutet sie nicht als Selbstzweck zu verstehen, sondern sie als Alternative zum Unilateralismus und
militärischen Interventionismus der USA zu entwickeln.

Für die Vereinte Europäische Linke bedeutet das insbesondere:
1. Der Krieg gegen den Irak muss klar und uneingeschränkt abgelehnt werden.
2. Die Bildung eines Palästinenserstaates und die Lösung des Nah-Ost-Konfliktes wären der wirkungsvollste Schritt, um die Gefahren
in der Region, auch jene, die von Sadam Hussein ausgehen, entscheidend zu reduzieren.
3. Das unmenschliche und politisch kontraproduktive Embargo gegen den Irak muss – mit Ausnahme von Rüstungsexporten –
aufgehoben werden. Damit würde zugleich die Abschottung des Regimes gegen demokratischen Druck geschwächt werden.
4. Die UN-Inspekteure müssen zurück in den Irak – aber unter strikter Einhaltung des Mandats und nicht als Instrument der CIA:
5. Nicht militärische Präventivschläge, sondern präventive Sicherheitspolitik – Entwicklungs-, Menschenrechts-, Demokratiepolitik,
Stärkung der UNO, kooperative internationale Beziehungen, ziviles Krisenmanagement – ist endlich gefordert. Hier liegen auch die
Chancen und beträchtliche positive Erfahrungen europäischen Staaten und der EU.
6. Wir müssen zurück bzw. voran zu einer echten internationalen Abrüstungspolitik. Wer andere durch Krieg abrüsten will, selbst aber
massiv und hochoffensiv aufrüstet und ein militärisches Machtmonopol zementieren und imperial ausspielen will, wird Krieg und die
Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen nicht stoppen, sondern verursachen und fördern.