Von Lissabon nach Barcelona
Die EU-Beschäftigungspolitik vor dem Europäischen Rat Dossier von Dr. André Brie, Mitglied des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten
Vor zwei Jahren stellte der Europäische Rat von Lissabon das Ziel, die Europäische Union innerhalb von zehn Jahren zum
dynamischsten, wettbewerbsfähigsten und nachhaltigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Die Vollbeschäftigung soll in diesem
Zeitrahmen ebenso erreicht werden wie eine stärkere wirtschaftliche und soziale Kohäsion. Der EU-Gipfel am 15. und 16. März 2002 in
Barcelona wird eine Zwischenbilanz auf diesem Weg ziehen. Dabei dürfte eines deutlich werden: Vision und Realität klaffen in Europa
weit auseinander.
Die Vorgeschichte
Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in Europa verlangt, alle maßgeblichen Politikbereiche (Wirtschafts-, Finanz-, Bildungs-,
Forschungs-, Umweltpolitik etc.) auf das Ziel auszurichten, einen Beitrag zur Lösung der Beschäftigungsprobleme zu leisten.
Entsprechende Koordinationsprozesse wurden seit Mitte der 90er Jahre auf verschiedenen EU-Gipfeln lanciert und in den vergangenen
zwei Jahren verstärkt zusammengeführt und gebündelt:
– Der Cardiff-Prozess (1992/93) thematisierte „Strukturreformen im EU-Binnenmarkt“ und gemeinschaftliche Anstrengungen in der
Umweltpolitik. Seit 1996 bemühen sich Kommission und Rat ebenfalls um eine gewisse Koordination der Steuerpolitiken der
Mitgliedstaaten – zumindest, um den „unlauteren Steuerwettbewerb“ zu begrenzen.
– Der Luxemburg-Prozess (1997) hat die Koordinierung der Beschäftigungspolitiken der Mitgliedstaaten zum Inhalt. Auf Basis eines
neuen Beschäftigungskapitels im Amsterdamer EU-Vertrag wird eine EU-Beschäftigungsstrategie mit jährlichen europäischen
Leitlinien entwickelt, die jedoch praktisch keinen verbindlichen Charakter hat. Die Mitgliedsstaaten setzen diese Leitlinien in
Nationalen Aktionsplänen zur Beschäftigungspolitik um. Die Reform der Struktur- und Regionalpolitik sollte diesen Prozess
flankieren, indem dem Kriterium der Beschäftigungsintensität ein höherer Stellenwert in den geförderten Maßnahmen eingeräumt
wurde.
– Der Köln-Prozess (1999) behandelte den makroökonomischen Dialog zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten, der
EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und den Sozialpartnern. Hier geht es darum, die Wirtschafts- und
Fiskalpolitiken der Mitgliedstaaten zu koordinieren und sie mit der Geldpolitik der EZB und der Lohnpolitik der Sozialpartner
abzustimmen. Offizielles Ziel des makroökonomischen Dialogs ist die Förderung von Beschäftigung. Allerdings geben sowohl die
Regierungen als auch die Europäische Kommission zu, dass der Dialog bisher unter seinen Möglichkeiten geblieben ist.
– Der Lissabon-Prozess (2000) war ein erster Versuch zur Bündelung der bisherigen Koordinationsprozesse. Im Mittelpunkt steht
die Idee, ein „gleichschenkliges Dreieck“ aus Wirtschafts-, Sozial- und Beschäftigungspolitik zu schaffen, die sich gegenseitig
durchdringen und unterstützen sollen. So werden die Binnenmarkt-Strukturreformen aus dem Cardiff-Prozess, der
makroökonomische Dialog aus dem Köln-Prozess, die Beschäftigungsstrategie aus dem Luxemburg-Prozess und ein neu zu
schaffender Koordinationsprozess zur Sozialpolitik vom Anspruch her miteinander kombiniert.
– Der EU-Gipfel von Nizza (Dezember 2000) lancierte eine „neue offene Methode der Koordination“ in der Sozialpolitik. Die
Mitgliedstaaten wurden angehalten, nationale Aktionspläne auf 2-Jahresbasis zur Bekämpfung von Armut und sozialer
Ausgrenzung aufzustellen und über die Ergebnisse zu berichten. Die „offene Koordination“ erwies sich zugleich als Bestreben, die
„intergouvernementale“ Zusammenarbeit im Rat zu Lasten der Rolle der EU-Kommission und „gemeinschaftlicher“ Politik zu
stärken. Sie stellt einen wesentlichen Bestandteil ernsthafter Bestrebungen einer gewissen Renationalisierung dar, die
inzwischen noch weiter vorangetrieben wurde und die EU-Kommission vor zwei Wochen zu der einmaligen Ankündigung
veranlasste, Klage gegen alle 15 Mitgliedsländer der EU wegen der Verletzung der Europäischen Verträge und der Rechte der
Kommission zu erheben. Um es unmissverständlich zu sagen: Trotz notwendiger, aus meiner Sicht auch scharfer Kritik am Inhalt
der Kommissionspolitik hat die EU-Kommission meiner Meinung nach mit der Klage Recht.
– Die EU-Gipfel von Stockholm und Göteborg (2001) ergänzten den Lissabon-Prozess um weitere Koordinationsvorhaben. Es geht
zum einen darum, aus dem makroökonomischen „Dreieck“ durch eine „Umweltdimension der Gemeinschaft“ zumindest
hinsichtlich der Absichten ein „Viereck“ zu machen, und zum anderen um eine neue offene Koordination zur Rentenpolitik der
Mitgliedstaaten.
Die Situation
Entsprechend der Lissabonner Beschlüsse soll bis zum Jahr 2010 in der Europäischen Union Vollbeschäftigung erreicht sein. Dies
entspricht nach EU-Lesart einer Erwerbstätigenquote von 70 Prozent, bei Frauen mindestens 60 Prozent. Dazu müssten 20 Millionen
Arbeitsplätze zusätzlich entstehen.
Gegenwärtig (Stand Januar 2002) liegt die Arbeitslosenquote in der Eurozone unverändert bei 8,4%, in der EU15 konstant bei 7,7%. Im
Januar 2001 hatte die Quote in der gesamten EU ebenfalls bei 7,7% gelegen. Damit waren im Januar 2002 in der Eurozone etwa 11,5
Millionen und in EU15 insgesamt ca. 13,4 Millionen Männer und Frauen offiziell arbeitslos gemeldet.
Im Januar 2002, verzeichneten die Niederlande (2,4% im Dezember), Luxembourg (2,6%), Österreich (3,9%), Dänemark (4,2% im
Dezember), Irland (4,2%) und Portugal (4,3%) die niedrigsten Arbeitslosenquoten. Spanien hatte mit 12,8% weiter die höchste
Arbeitslosenquote der EU.
Die Arbeitslosenquote der Männer ist in der Eurozone von 6,9% im Januar 2001 auf 7,1% im Januar 2002 angewachsen, dagegen sank
die Arbeitslosenquote der Frauen von 10,4% auf 10,1%. In der EU15 erhöhte sich die Arbeitslosenquote der Männer von 6,6% im Januar
2001 auf 6,8% im Januar 2002, während die Arbeitslosenquote für Frauen im gleichen Zeitraum von 9,1% auf 8,9% zurückging. Die
Quote für die unter 25-Jährigen betrug im Januar 2002 in der Eurozone 16,7% und in der EU15 15,5%. Ein Jahr zuvor hatte sie bei
16,6% bzw. 15,4% gelegen. Im Januar 2002 rangierte sie von 5,8% in den Niederlanden (im Dezember) bis zu 24,1% in Spanien.
Die Strategie
Das Beschäftigungskapitel des Amsterdamer Vertrags verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Koordinierung ihrer nationalstaatlichen
Politiken. Die Beschäftigungspolitik wurde damit als eigenständiger Politikbereich der EU aufgewertet. Das Europäische Parlament ist
in den Prozess der Aufstellung beschäftigungspolitischer Leitlinien der EU und der Bewertung der Nationalen Aktionspläne der
Mitgliedstaaten einbezogen. Unterhalb dieser Ebene gibt es eine Evaluierung der unterschiedlichen Arbeitsmarktinitiativen der
Mitgliedstaaten (Benchmarking, Vergleich bester Praktiken, „Peer Reviews“ mit den Abteilungsleitern der Arbeits- und Sozialministerien
usw.). Positiv daran ist, dass die Berichtspflicht der Nationalstaaten und der ständige Vergleich der nationalstaatlichen Praktiken dazu
zwingt, die jeweiligen beschäftigungspolitischen Strategien der Mitgliedstaaten genauer zu begründen und zu überprüfen. Positiv ist
auch, dass damit ein europaweiter Diskussionsprozess über erfolgreiche Wege zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit in Gang
gesetzt wurde.
Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe kritischer Punkte in der Bewertung der europäischen Beschäftigungsstrategie. Im Unterschied
zu den strikten Defizitregeln des Maastrichter Vertrags und des Stabilitäts- und Wachstumspakts in der Haushaltspolitik der
Mitgliedstaaten ist die Koordination der Beschäftigungspolitiken ohne Sanktionsmechanismen ausgestattet. Die Mehrzahl der
jeweiligen Einzelpunkte der beschäftigungspolitischen EU-Leitlinien ist sogar unverbindlich. Es handelt sich um reine „Empfehlungen“
an die Mitgliedstaaten, die in der Mehrzahl keine quantitativen oder qualitativen Vorgaben der europäischen Ebene festlegen.
Die Substanz der beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU wurde bewusst in den ersten fünf Jahren von 1997 bis 2002 konstant
gehalten. Die drei einzigen verbindlichen Vorgaben aus in der Regel 19 bis 22 Leitlinienpunkten waren:
– allen erwachsenen Erwerbslosen sollte ein Neuanfang in Form einer Ausbildung, einer Umschulung, einer Berufsberatung, eines
Arbeitsplatzes oder eines Vermittlungsgesprächs im Arbeitsamt ermöglicht werden, ehe sie ein Jahr arbeitslos gemeldet waren;
– die Verpflichtung der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf ein Ausbildungs-, Arbeitsplatz- oder Praktikumsangebot für jugendliche
Erwerbslose innerhalb von 6 Monaten;
– die Erhöhung des Anteils der Erwerbslosen in „aktiven Maßnahmen“ auf 20 % der erwerbslos Gemeldeten.
Der Beschäftigungsbericht der Kommission für das Jahr 2000 bilanzierte ganz offen: Erkennbare „Fortschritte“ gab es fast nur da, wo es
auch verbindliche europäische Vorgaben gegeben hat. Wo es bei allgemeinen „Empfehlungen und Ermunterungen“ an die
Mitgliedstaaten blieb, sind auch die rückgemeldeten Ergebnisse eher ernüchternd oder deprimierend. Die Kommission gestand
ebenfalls ein, dass sie keine qualitativen oder quantitativen Angaben dazu machen konnte, welchen Beitrag die europäische
Beschäftigungsstrategie zum moderaten Rückgang der Arbeitslosenquoten in den Mitgliedstaaten seit 1997 leisten konnte.
Die beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU wurden seit 1997 in einer Vier-Säulen-Struktur gefasst. Die gewählte Struktur ist
ebenfalls kritikwürdig:
– In der ersten Säule Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit setzt die EU auf eine Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern und eine Modernisierung der Arbeitsverwaltungen. Andererseits vermittelt sie den Eindruck, die Erwerbslosen
seien an ihrem Schicksal selbst schuld, weil zu sie wenig mobil, flexibel und zu gering oder falsch qualifiziert seien. Wie neue
Arbeitsplätze auf der Angebotsseite geschaffen werden sollen, um die neu Qualifizierten aufzunehmen, bleibt jedoch offen.
– In der zweiten Säule Entwicklung des Unternehmergeistes und Schaffung von Arbeitsplätzen werben die Leitlinien für den
Abbau bürokratischer für Existenzgründerinnen. Auf der anderen Seite vermitteln sie den Eindruck, dass allein durch eine
wachsende Zahl von Selbständigen die Beschäftigungsprobleme gelöst werden könnten. Das ist eine unrealistische Strategie.
– Die dritte Säule Förderung der Anpassungsfähigkeit der Unternehmen und ihrer Beschäftigten orientiert einseitig auf eine
Flexibilisierung von Arbeitsverträgen und betrieblichen Arbeitszeitmodellen. Kollektive Arbeitszeitverkürzung und
Überstundenabbau kommen in den Leitlinien nicht vor. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz und die Qualität der Arbeit sind nach
wie vor unterbelichtet.
– In der vierten Säule „Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern“ greifen die Leitlinien die prekäre Situation von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt und die Lohndiskriminierung auf. Die geforderten Beratungsmechanismen und Indikatoren zur
Erfassung der Frauendiskriminierung reichen jedoch nicht aus, die Anforderungen an die Mitgliedstaaten zum Abbau
geschlechtsspezifischer Diskriminierung verbindlich zu machen. So fehlen zum Beispiel Quotenregelungen für den öffentlichen
wie den privaten Sektor oder verbindliche Vorgaben für einen Ausbau von Kinderbetreuungs- und Pflegeangeboten.
Als Fazit bleibt: Die gegenwärtige EU-Beschäftigungsstrategie hat den Zwang gegenüber den Regierungen erhöht, ihre
Arbeitsmarktpolitik zu vergleichen und zu rechtfertigen. Weil sie wenig verbindlich ist, zwingt sie die Regierungen jedoch kaum zum
wirksamem Umsteuern, geschweige denn zu finanziell unterfütterten beschäftigungspolitischen Maßnahmeprogrammen.
Dieser Ansatz spiegelt sich auch in den Diskussionsvorgaben der EU-Kommission für den Barcelona-Gipfel wider. Als zentrale Punkte
stehen dabei die „Überprüfung der Steuer- und Transfersysteme“, die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, die „Erhöhung der Mobilität der
Arbeitnehmer“ sowie Schritte zur Privatisierung der Rentensysteme auf der Themenliste. Nicht zuletzt erhofft man sich in Brüssel durch
die weitere Liberalisierung des europäischen Energie- und Finanzmarktes einen Schub für die Beschäftigung. Ob die Marktöffnung
jedoch auf die Arbeitnehmer „durchschlägt“, ist zumindest fraglich. Zumal parallel zu diesen Maßnahmen soziale und ökologische
Aspekte der Beschäftigungspolitik mehr und mehr an den Rand gedrängt werden.
Die Forderungen an Barcelona
Eine nachhaltige Beschäftigungspolitik in der EU braucht einen alternativen gesamtwirtschaftlichen Politik-Mix, um gleichzeitig eine
umweltverträgliche Wirtschaftsentwicklung, einen gestärkten sozialen Zusammenhalt, Gleichstellung der Frauen und das Ziel der
Vollbeschäftigung zu erreichen:
– eine wirtschaftspolitische Kooperation zwischen der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, der Wirtschafts- und Fiskalpolitik
der Mitgliedstaaten und der Lohnpolitik,
– eine entspanntere Geldpolitik,
– eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik,
– eine binnenwirtschaftsorientierte Strategie für Nachhaltigkeit und
– eine Haushaltspolitik, die öffentliche Investitionen, Forschung und Bildung sowie die Entwicklung der Humanressourcen stärkt.
Auch die bisherige Vier-Säulen-Struktur der beschäftigungspolitischen Leitlinien sollte neu gefasst und verbindliche Vorgaben für die
Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten integriert werden. Eine solche Struktur der Leitlinien könnte folgende Säulen umfassen:
– Arbeitszeitverkürzung, soziale Qualität der Arbeit und neue Modelle der Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben
– Qualifizierungsoffensive für die Wissensgesellschaft, den ökologischen Umbau, ökoeffiziente und humanzentrierte
Dienstleistungen und lebensbegleitendes Lernen
– Neue Arbeitsplätze durch Erneuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Stärkung der KMU´s, öffentlich geförderte Beschäftigung
und Sozialwirtschaft, ökologischer Strukturwandel der Wirtschaft
– Gleichstellung zwischen Frauen und Männern
Der bereits eingeleitete Koordinationsprozess zur Sozialpolitik sollte ab 2002 demokratisiert (vollständige Einbeziehung des
Europäischen Parlaments) und die Mitgliedstaaten durch verbindliche europäische Ziele zu eigenen Maßnahmeprogrammen
angehalten werden. Schon die portugiesische Ratspräsidentschaft hatte im Jahr 2000 vorgeschlagen, durch europaweit koordinierte
Maßnahmeprogramme der Mitgliedstaaten die Kinderarmut in Europa bis zum Jahr 2010 zu überwinden. So könnten quantitative und
qualitative Vorgaben z. B. zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes, zum Mindestniveau einer sozialen Grundsicherung, zur
Überwindung der Wohnungslosigkeit oder des Analphabetismus vereinbart werden.
Umweltgerechtes Wirtschaften, eine Strategie für Vollbeschäftigung und Qualität der Arbeit sowie eine Politik für soziale Gerechtigkeit
wären somit das Fundament für eine umfassende Nachhaltigkeitsstrategie für eine sich erweiternde Europäische Union.