Rede auf der Konferenz in St. Petersburg vom 27. Juni 2002
Erstmalig haben sich in Sankt Petersburg Mitglieder der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken / Nordische Grüne Linke (GUE / NGL) mit Vertretern
progressiver Parteien und Bewegungen Russlands getroffen. Unser Ziel war es, tiefere und authentische Kenntnisse über das heutige Russland zu
erhalten und Anregungen zu bekommen, wie im Prozess der Erweiterung der Europäischen Union die Beziehungen mit den neuen Nachbarn zu gestalten
sind und wie die linken Kräfte auf diese Entwicklung Einfluss nehmen können und müssen.
In dem offenen und konstruktiven Meinungsaustausch schälten sich folgende Grundüberzeugungen heraus:
E r s t e n s : Frieden und gemeinsame Sicherheit bleiben auch oder vielleicht sogar trotz Ende des kalten Krieges eine große Herausforderung. Frieden in
Europa wird es nur mit und nicht gegen Russland geben. An dieser Prämisse haben die Terrorakte in New York und Washington nichts geändert, im
Gegenteil. Nach jenem 11. September hieß es, es werde von nun an nichts mehr so sein, wie es war. Das stimmt, aber es stimmt auch wieder nicht. Im
Leben der einfachen Menschen haben sich die Dinge nicht so grundlegend geändert, wenngleich auch hier die Auswirkungen in Form von
Einschränkungen der Meinungs-, Bewegungs- und Versammlungsfreiheit spürbar sind. Einschneidender sind indessen die Veränderungen auf dem Feld
der Politik. Der Krieg, der noch im Falle des NATO-Bombenangriffs auf die souveräne Republik Jugoslawien als Ausnahmefall bezeichnet wurde, ist
wieder zu einem Mittel der praktischen Politik geworden. Die USA teilen nach Kriterien, die willkürlich aufstellen, die Welt in gute und böse Staaten ein und
maßen sich das Recht an, gegen die in ihren Augen bösen Staaten präventiv vorzugehen. Statt den USA in den Arm zu fallen, bekunden die wichtigsten
NATO-Staaten – allen voran Deutschland und Großbritannien – ihre uneingeschränkte Solidarität mit Bushs Kriegspolitik. Unsere Fraktion hat die
Terroranschläge verurteilt, sie steht aber damit nicht auf der Seite derer, die der Welt weiß machen wollen, der Erfolg im Kampf gegen den Terror sei im
Krieg zu suchen. Ursachen des Terrors wie Hunger, Armut, Unterentwicklung und Unterdrückung sind nicht mit militärischer Gewalt zu bekämpfen. Wir
wollen die Kräfte unterstützen, die sich für Frieden, soziale Gerechtigkeit einsetzen und für Alternativen zur kapitalistischen Globalisierung demonstrieren.
Z w e i t e n s : Als Linke kritisieren wir scharf die neoliberale Politik der EU, doch mehrheitlich sind wir keine Gegner der Erweiterung der Union. Wir treten
kritisch-konstruktiv für einen Erweiterung ein, die nicht den Gesetzen der Marktlogik und des Profitstrebens folgt, sondern wirklich zur Integration der
Staaten und Völker auf gleichberechtigter Grundlage beiträgt.
Einheitlich lehnen wir die Ausdehnung der NATO nach Osten, bis unmittelbar an die Grenzen Russlands heran, ab. Entschieden wenden wir uns
dagegen, dass von Seiten der Europäischen Kommission und auch von Parlamentarierkreisen die künftigen EU-Mitgliedsstaaten unter Druck gesetzt
werden, dass ihre Aufnahme in die Union nur unter den Bedingungen eines Beitritts zur NATO möglich sein.
Statt der Schaffung einer eigenen militärischen EU-Eingreiftruppe und der Erweiterung der NATO in Richtung Osten braucht Europa gefestigte kollektive
Sicherheitsstrukturen. Die Basis dafür sollte die OSZE sein.
D r i t t e n s : Die formelle Seite für partnerschaftliche Beziehungen zwischen der EU und Russland ist mit den bestehenden Partnerschaftsverträgen
geschaffen worden. Mit greifbarem Inhalt ausgefüllt sind diese Verträge trotz beiderseitiger Absichtsbeteuerungen nur ungenügend, weshalb sich bisher
auch kein wirkliches Vertrauensverhältnis herausbilden konnte.
Der dringend notwenige Dialog gerät häufig zum Monolog der einen Seite, der EU, die der anderen – Russland – einen Katalog von Vorbehalten und
Forderungen präsentiert. Auch wenn Russland mit der Einhaltung mancher Aspekte der Menschenrechte Probleme hat – das gilt übrigens auch für
nahezu alle EU-Staaten, von den USA nicht zu reden -, so kann doch nur ein Dialog auf gleicher Augenhöhe Nutzen bringen. Unsere Diskussion hat
gezeigt, dass es in dieser Hinsicht unterschiedliche Sichtweisen und unterschiedliche Gewichtungen der Menschenrechtsfragen gibt. Ohne Zweifel ist
Tschetschenien ein ernstes, ungelöstes und vermutlich auch nicht militärisch lösbares Problem, das ich nicht klein reden will. Dennoch sollte man dabei
nicht die großen Zusammenhänge und Tendenzen der internationalen Politik aus den Augen verlieren. Mir scheint, dass die Haupttendenz mehr denn je
auf Absicherung der Interessen der e i n e n Weltmacht – die USA – geht, die m Begriff sind, eine neue geostrategische Lage zu schaffen. Von dieser
Entwicklung ist Russland unmittelbar berührt, werden doch in ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken am rohstoffreichen Ufern Kaspischen
Meeres und in der Kaukasusregion im Eiltempo militärische Stützpunkte der USA errichtet. Der Vormarsch der USA auf dem asiatischen Festland tangiert
auch die Interessen anderer großer asiatischer Mächte. Es ist davon auszugehen, dass es früher oder später zu einer Kollision der Interessen zwischen
den USA auf der einen und der EU, Russland, China und Japan auf der anderen kommen könnte.
Um so dringlicher ist eine Sicherheitspartnerschaft zwischen der EU und Russland als ein ständiger, sich fortentwickelnder Prozess. Russland muss als
gleichberechtigter Partner akzeptiert werden und nicht nur als Nothelfer, wenn die USA und die NATO wie im Falle Jugoslawien sich gründlich verfahren
und verrechnet haben.
Die Partnerschaft muss sich weit über die unmittelbaren Sicherheitsaspekte hinaus erstrecken und wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische
Zusammenarbeit und einen breiten geistig-kulturellen Austausch zum Inhalt haben.
Wirtschaftlicher Aufschwung in Russland und soziale Stabilität liegen in ureigenem Interesse der EU, und deshalb sollte sie ihre Anstrengungen in dieser
Richtung verstärken.
V i e r t e n s : Das Verhältnis der EU zu den Staaten der GUS – allen voran Russland – erfordert eine offne Diskussion und ist entwicklungsbedürftig.
Vorbehalte gibt es zweifellos auf beiden Seiten. Auf Seiten der EU wird bisher nicht oder nicht vollständig realisiert, dass Russland zu einem Faktor der
Zusammenarbeit und der Stabilität werden kann und werden muss. Man muss leider sagen, dass die EU gegenüber Russland ein verklemmtes Verhältnis
hat, das von dem Vorurteil geprägt ist, Moskau verfolgte mit der GUS imperiale Bestrebungen.
Mit der Erweiterung der EU stellt sich auch die Frage nach der Perspektive der Region Kaliningrad. Es gibt Bestrebungen, die politische Dimension des
Problems auszublenden und alles auf eine Visa-Diskussion zu reduzieren. Richtig ist, dass die Region bei den bevorstehenden Beitritten Polens und der
baltischen Staaten von EU-Staaten umschlossen ist, wahr ist aber auch, dass das Kaliningrader Gebiet im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges Teil der
Russischen Föderation und damit Teil eines souveränen Staates geworden ist. Es geht hier nicht in erster Linie um den Ehrgeiz eines Präsidenten,
sondern um die Menschenrechte und die Menschenwürde der Bürger ganz Russlands !
In Deutschland werden Stimmen laut, vor dem Hintergrund der Aussiedlungen und Enteignungen in Polen und der Tschechoslowakei gemäß den
Bestimmungen des Potsdamer Abkommens die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges in Frage zu stellen. Um eine für alle Seiten befriedigende Lösung für
das Gebiet Kaliningrad zu finden, ist ein wirklicher Dialog erforderlich. Die Ausschüsse für Auswärtige Angelegenheiten des Europaparlaments und der
Duma sind hier in besonderem Maße gefordert.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass der Meinungsaustausch in Sankt Petersburg viele wertvolle Denkanstöße gegeben hat. Mit dieser Konferenz hat
die linke Fraktion politisch gesehen das Fenster nach Osten aufgestoßen. Wir – und damit meine ich die Europaparlamentarier ebenso wie die russische
Seite – verstehen noch besser, dass linke Politik nicht neben der allgemeinen Politik der EU steht, aber auch nicht einfach als damit identisch zu verstehen
ist. Der in Sankt Petersburg begonnene Dialog war ein hoffnungsvoller Beginn. Es gilt, ihn auszuwerten und auf einer höheren Stufe fortzusetzen.