Redebeitrag zur EU-Erweiterung

Hans Modrow

Rede von Hans Modrow auf der Plenardebatte in Strasbourg am 22. 10. 2002 zur EU-Erweiterung

Der Prozess der Erweiterung der Europäischen Union um zehn Staaten tritt in seine letzte entscheidende Phase. Unsere Fraktion hat ihn stets aktiv, aber auch kritisch begleitet und mitgestaltet. Es bestehen reale Befürchtungen, dass über Jahre mit der Erweiterung genährte Hoffnungen auf soziale Verbesserungen und wirtschaftlichen Aufschwung so nicht in Erfüllung gehen. Die kraftvollen Töne von der Überwindung der Spaltung Europas und der Beseitigung des kommunistischen Erbes, wie sie hier im Parlament immer wieder zu hören sind, blenden eine differenzierte Sicht auf die europäische Nachkriegsgeschichte aus und gehen so angesichts der vielfältigen Probleme in den mittel- und osteuropäischen Staaten über die Köpfe der Bürger hinweg.

Die Menschen werden kaum in den Prozess einbezogen. Der Prozess verlief im Wesentlichen administrativ-technisch und von Brüssel aus als Übernahme des gemeinsamen Besitzstandes angelegt und durchexerziert. Die Regierungen der Kandidatenländer hatten wohl manchmal zu wenig zu sagen, die Parlamente wurden auf wenig kritische Beratungen und Zustimmung eingestellt. Der von jedem Land zu übernehmende und umzusetzende Besitzstand türmt sich zu einem Papierberg von über 80 000 Seiten auf, den kaum die Beamten überschauen. Wie sollen die Bürger ihn dann überblicken!

Unter diesen Bedingungen konnte und wollte die oft angemahnte europäische Zukunftsdebatte weder in den fünfzehn noch in den Beitrittsstaaten wirklich in Gang kommen. Es ist kein Geheimnis, das der Frust bei der Landbevölkerung besonders tief sitzt. Wer sich mit den Erweiterungsunterschieden aus früheren Beitritten beschäftigt, kann nicht übersehen, dass die Parität bei den Direktzahlungen an die Bauern erst im Jahr 2013 hergestellt sein soll. In Verbindung damit will man den genossenschaftlichen Betrieben, die angeblich Relikte der kommunistischen Zwangswirtschaft sind, das Wasser abgraben. Ich sage klipp und klar: Mit einem aufgewärmten Antikommunismus, der nicht wenige der von den Völkern der Beitrittsländer gewählte führende Politiker zwangsläufig einbeziehen müsste, wird die europäische Integration nicht gut funktionieren. Ich könnte Ihnen hier auch manchen meiner guten Bekannten in diesem Kreis der Politiker nennen.

Angesichts der prekären Informationsdefizite scheint es notwendig vor allem die Frage zu stellen, wie die Europäische Union im Alltag der Bürger wirkt und wie wir mit ihnen darüber zu diskutieren haben. Weniger über Transparenz und Demokratie reden, dafür umso mehr für Transparenz und Demokratie tun, das wäre die Forderung, die vor uns steht!