Rede zur Türkei
André Brie in der Debatte des Europäischen Parlaments zur Beitrittspartnerschaft mit der Türkei am 14. Februar 2001 in Strassburg
Die Vorschläge des Kollegen Swoboda für die Verordnung des Rates sind meiner Meinung nach sachgemäß. Die Verordnung würde durch diese Änderungen in nicht geringem Maße gewinnnen. Es wäre allerdings wichtig, real zu erreichen, dass die bereit gestellten Mittel – wie im MEDA-Programm gefordert – in besonderem Maße für die Überwindung von Diskriminierung, Unterentwicklung und Kriegsfolgen im Südosten der Türkei eingesetzt würden
Wenn ich aber größte Schwierigkeiten mit dem gesamten Anliegen und der Politik des Rates, der Kommission und der einzelnen Regierungen gegenüber der Türkei und in Bezug auf die „Heranführungsstrategie“ und Beitrittspartnerschaft habe, so aus Gründen, die wir hier schon oft diskutiert haben.
Ich will zunächst wiederholen, dass ich eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU trotz sehr schwieriger Konsequenzen grundsätzlich befürworte. Die Voraussetzung ist natürlich erstens die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien. Zweitens muss die Türkei und muss vor allem die Bevölkerung dieses Landes den Beitritt mit seinen äußerst weitreichenden und zum Teil sicherlich auch problematischen Folgen für das gesamte politische und wirtschaftliche System wollen.
Gegenwärtig ist es offensichtlich, dass insbesondere die rechtsradikale Rgierungspartei MHP und wichtige Teile des Militärs die erforderlichen Wandlungen hin zu Demokratie und zur Achtung elementarer Menschen- und Minderheitenrechte nicht wollen und mit der Bewerbung um eine Mitgliedschaft in der EU nur finanzielle und wirtschaftliche sowie strategische Vorteile sowie eine Schwächung der internationalen Kritik an den unakzeptablen Zuständen in der Türkei erreichen wollen. Das Ziel für sie ist weniger die tatsächliche Mitgliedschaft – im Gegenteil: deren Voraussetzungen werden in der politischen Praxis massiv ignoriert – ,sondern der Kandidatenstatus als Selbstzweck, der die Vorteile zum Beispiel der finanziellen Hilfe sichert, ohne dass man die Grundprinzipien der Rechtstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte verwirklichen muss.
Die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken hatte kürzlich eine Delegation in die Türkei entsandt, um authentische Informationen zur aktuellen politischen Entwicklung und insbesondere zu den ungeheuerlichen Vorgängen in den türkischen Gefängnissen sowie zur Situation der Kurdinnen und Kurden zu erhalten. Die Berichte sind erschütternd und empörend. Die Militäraktionen gegen die hungerstreikenden Gefangenen haben mehr als 30 Tote und Hunderte Verletzte verursacht. Wir können Ihnen schreckliche Erlebnisberichte von Hayat Dervis aus dem Gefängnis in Kandera, Firdes Kirbyik aus dem Gefängnis in Gebze, Bülent Ersonk aus dem Gefängnis in Sincon oder von Imam Gül, der Mutter zweier Gefangener zur Verfügung stellen.
Niemand kann leugnen, dass es zu entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen, vor allem auch zur Folterung von Inhaftierten gekommen ist. Gleichzeitig wurde die Öffentlichkeit unterdrückt. Die Räumlichkeiten von 18 demokratische Organisationen, insbesondere alle Vereinigungen von politischen Gefangenen und ihren Familienangehörigen, wurden durchsucht und ohne jede Begründung geschlossen. Zahlreiche Kritiker der Militäraktion wurden verhaftet, einige befinden sich noch immer in Haft. 14 Gewerkschaftsführer sind unter Hausarrest gestellt worden. Seit dem 25. Januar sind zwei HADEP-Funktionäre aus Silopi verschwunden, nachdem sie einer Vorladung auf die örtliche Gendarmeriestation gefolgt waren. Ich bin brennend daran interessiert, wie Kommission und Rat all diese Vorfälle einschätzen und ob sie etwas Konkretes unternehmen.
Jeder von Ihnen weiß, dass auch alle anderen Missstände fortbestehen: die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung, die Okkupation Nordzyperns, eine staatsrechtliche Rolle des Militärs, die jeder Rechtsstaatlichkeit widerspricht und so weiter und so fort.
Es wurde uns immer wieder erzählt, dass die Türkei-Strategie der Union dazu beitragen soll, diese Zustände zu überwinden. Als der Europäische Rat am 13. Dezember 1999 in Helsinki der Türkei den Status eines Bewerberlandes für den Beitritt zur Europäischen Union gewährte, wurde das mit den angeblichen Fortschritten der Türkei in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht begründet. Kommissar Verheugen hat uns am 14. November an dieser Stelle erklärt, ich zitiere wörtlich, „dass wir berechtigte Hoffnung haben können, genau das zu erreichen, was wir erreichen wollen, nämlich mit unserer Politik den Reformkräften in der Türkei zu helfen, dem Reformprozess neuen Schwung zu verleihen und ihn im Hinblick auf die angestrebte Mitgliedschaft in der Europäischen Union voranzutreiben…“ Ende des Zitats, und Ende der illusionen, Ende einer fehlgeschlagenen Strategie.
Ich verstehe durchaus, dass Diplomatie oft mit sehr diffizilen Mitteln arbeiten muss, aber wenn die Kommission und der Rat ihre positiven Absichten für die aktuelle türkische Realität ausgeben, gehen sie erstens den herrschenden Demokratiegegnern in der Türkei auf den Leim und stärken deren Position, fallen sie zweitens den Opfern der Menschenrechtsverletzungen und den wirklichen Reformkräften in den Rücken, diskreditieren sie drittens jede echte Menschenrechtspolitik.
Ich jedenfalls zweifle inzwischen daran, dass es Ihnen um die Realisierung der Kopenhagenkritierien und nicht um viel irdischere Dinge geht, nämlich darum, nicht mehr und nicht weniger als die sicherheitspolitische und strategische Stabilisierung der Türkei in einer für die USA und die EU entscheidenden Region. Ich wäre glücklich, wenn Sie mir und vor allem den Demokratinnen und Demokraten in der Türkei das Gegenteil beweisen würden. Ich halte Dialog für produktiver als Blockaden, aber ehrliche Einschätzungen, nicht zuletzt gegenüber dem Parlament, und eine konsequente Kritik der unhaltbaren politischen und rechtlichen Zustände in der Türkei, , wären dafür unerlässlich.