Wer nachdenkt, sagt Nein!

André Brie, Rede im Europäischen Parlament am 3. Juli 2001 zum Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie über Betriebsrentensysteme

Meine Fraktion hat sich außerordentlich aktiv an den Diskussionen über den Kommissionsvorschlag beteiligt. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Mit dem Vorschlag der Kommission wird der grundsätzliche Paradigmenwechsel in den europäischen Systemen zur Altersvorsorge fortgesetzt – weg von solidarischen sozialen und gesetzlichen Rentensystemen hin zur privaten, kapitalgestützten Altersvorsorge. Es ist für mich enttäuschend, dass diese Wende von großen Teilen der europäischen Sozialdemokratie mitgetragen wird.

Meine Kritik konzentriert sich auf zwei Fragen:

Erstens sollen die Betriebsrentensysteme in der EU einem gemeinschaftsweiten Wettbewerb unterworfen werden. Auch wenn ich in den vergangenen Jahren viel hinzu gelernt habe, was die Möglichkeiten und Chancen des Wettbewerbs betrifft, niemand wird mich überzeugen, dass ausgerechnet ein so grundlegendes Menschenrecht wie die soziale Sicherheit im Alter dem Wettbewerb unterworfen werden soll. Und dann auch noch jenem unkalkulierbaren auf den Finanzmärkten. In beiden Dokumenten werden keine verbindlichen Vorschriften für die Sicherheit der eingezahlten Beiträge vorgesehen! Völlig ungenügend sind aus unserer Sicht deshalb auch die vorgesehenen Aufsichtsregelungen. Im Parlamentsbericht wird zudem die Möglichkeit eingeräumt, die „Betriebsrente“ in Form einer Einmalzahlung auszuzahlen. Welche Risiken damit im Alter entstehen können, muss kaum erläutert werden.

Zweitens wird durch die Kommission ebenso wie durch den Bericht die Regulierung der Betriebsrentensysteme in der EU ausschließlich als ein Finanzmarktthema gesehen. Die sozialpolitische Perspektive fehlt völlig. In beiden Dokumenten wird von Leistungskürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung ausgegangen, die durch betriebliche Rentensysteme und die freiwillige private Vorsorge ausgeglichen werden sollen. Die Kommission schlägt vor, dass die Beiträge von Betriebsrentensystemen künftig bis zu 70 Prozent in Aktien und anderen Wertpapieren angelegt werden dürfen, mindestens 30 Prozent davon in Fremdwährungen.

Ich glaube, die Kommission sollte offen sagen, dass es ihr nicht um die Zukunft der Renten, sondern um Gegenwart und Zukunft des europäischen Kapitalmarktes geht. Und wenn die meisten anderen politischen Kräfte in diesem Haus zu solcher Politik inzwischen Ja sagen, so hat die europäische Linke jeden Grund, sich diesem Konsens zu verweigern. Die Spielräume für die Bewahrung und moderne Erneuerung solidarischer gesetzlicher Rentensysteme sind in keinem Mitgliedsland der Europäischen Union ausgeschöpft. Statt einer europaweiten Liberalisierung der betrieblichen Altersvorsorge brauchen wir eine europäische Koordinierung von Betriebsrentensystemen, wie dies ähnlich schon bei der gesetzlichen Rentenversicherung der Fall ist, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Bedürfnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und nicht von Anlagefonds. Wir sagen daher Nein zum Vorschlag der Kommission und zum vorgelegten Standpunkt des Parlaments.