Europäische Liberalisierungspolitik, EU-Osterweiterung und die Kommunen
André Brie, Rede auf der Konferenz des kommunalpolitischen forums Sachsen e.V. und der PDS-Fraktion im Stadtrat Dresden am 27. Oktober 2001 ‚Kommunen und Europa‘
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für die Einladung und die Möglichkeit, auf dieser Konferenz zu sprechen, die sich sowohl mit den Konsequenzen der EU-Osterweiterung als auch jenen der Liberalisierungspolitik für die Kommunen befasst. Ich glaube, dass es richtig ist, beide Themen gemeinsam zu diskutieren, obwohl sie auch für sich genommen bereits komplexes Ausmaß haben.
Es ist vor allem äußerst wichtig, dass Sie sich überhaupt mit der europäischen Dimension von Kommunalpolitik befassen. Einerseits verstehe ich das in der Bevölkerung weit verbreitete Desinteresse, die Skepsis, das Misstrauen gegenüber europäischer Politik, der europäischen Integration, den europäischen Institutionen. Wenn ich einmal verkürzt von Europapolitik sprechen darf, so ist sie nicht nur in der Sicht vieler Menschen, sondern auch real von einem Verlust strategischer Orientierung, von Bürokratie, Bürgerferne, Demokratiedefiziten gekennzeichnet. Der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU hat zweifelsohne eine historische Dimension, er wird meiner Meinung nach jedoch eher buchhalterisch und ohne die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger betrieben. Darüber hinaus ist auch das zweite Thema dieser Konferenz – so wie es gegenwärtig in der Europäischen Union angepackt wird – geeignet, die Distanz und Ablehnung der europäischen Integration durch viele Menschen zu verstärken.
Die Entwicklung der Europäischen Union und die EU-Politik werden gegenwärtig in außerordentlich starkem Maße von den Bestrebungen zur wirtschaftlichen Liberalisierung und Deregulierung sowie zur Privatisierung bestimmt. Das Ziel eines freien wirtschaftlichen Wettbewerbs dominiert eindeutig über soziale, kulturelle, ökologische und demokratische Belange. Die Auseinandersetzung um die Leistungen der Daseinsvorsorge ist dafür ein wesentliches Beispiel. Ich nehme die Differenzierungen, beispielsweise im neuen, vor einer Woche veröffentlichten, Bericht der Europäischen Kommission zu dieser Frage sehr ernst. Sie sind im übrigen auch Ausdruck dafür, dass sich der Widerstand der kommunalen Spitzenverbände, der Gewerkschaften und anderer Organisationen auszahlt, aber es bleibt doch dabei, dass die sozialen, infrastrukturellen und kulturellen Leistungen der Kommunen und Landkreise für die Bürgerinnen und Bürger schrittweise dem europaweiten wirtschaftlichen Wettbewerb, der „Vollendung des Binnenmarktes“, wie es in der EU-Sprache heißt, unterworfen werden sollen. Die Kommission behauptete in einer Pressemitteilung vom 17. Oktober 2001 zu ihrem Bericht, diese Politik hätte bereits zu einer „erheblichen“ Verbesserung der Leistungen der Daseinsvorsorge geführt und werde das auch in Zukunft tun. Ich glaube jedoch, dass viele Menschen die Wasser- und Abwasserpreise, die Qualität des öffentlichen Personenverkehrs oder auch die Angriffe auf das Sparkassensystem ganz und gar nicht als eine solche Verbesserung erfahren haben. Dass Deregulierung und Privatisierung zudem in den meisten Fällen auch mit der Gefährdung von Arbeitsplätzen, tariflicher Bezahlung und kommunaler Gestaltungsmöglichkeiten einher gehen, ist zumindest den Betroffenen bekannt. Dies sind Gründe, die nach meiner Überzeugung Gleichgültigkeit und Ablehnung gegenüber der EU und der europäischen Integration in Deutschland genährt haben.
Wenn ich jedoch davon spreche, dass ich das Desinteresse einerseits verstehe, so soll das nicht bedeuten, dass ich es teile. Denn andererseits, und eben deshalb halte ich diese Konferenz für so bedeutsam, betreffen uns die europäische Integration und Politik elementar. Und das nicht nur in makroökonomischer Hinsicht, wie zum Beispiel durch die Währungs- und Wirtschaftsunion, den gemeinsamen Markt, das Schengenabkommen oder die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch unmittelbar in unserem Alltagsleben und in den Kommunen.
Wie immer man zur EU stehen mag, Passivität und Gleichgültigkeit sind die falsche Antwort. Denn erstens ist „Europa“ eine machtvolle kommunale und alltägliche Realität. Wir sind von europäischer Politik umfassend betroffen. Zumindest unter diesem Gesichtspunkt sind wir gut beraten, uns unsererseits auch um sie zu kümmern, uns zu informieren und wo immer möglich, auf sie Einfluss zu nehmen. Das bereits erwähnte Beispiel der Kommissionsvorschläge zur Gestaltung der Daseinsvorsorge zeigt sehr deutlich, dass sich Druck der Öffentlichkeit, der Kommunen, Bundesländer, der Gewerkschaften, Verkehrsverbände usw. lohnt. Die jetzigen Vorschläge der Kommission halte ich nach wie vor für bedenklich hinsichtlich ihrer sozialen Konsequenzen und mit Blick auf die Möglichkeiten der kommunalen Selbstverwaltung und Demokratie, aber sie unterscheiden sich deutlich von den ursprünglichen Ideen der Kommission, die auf heftigen und offensichtlich wirksamen Protest vieler Betroffener gestoßen waren. Es ist nicht ganz leicht das Ausmaß „europäischen“ Einflusses auf die Kommunen zu quantifizieren, aber mindestens achtzig Prozent der Bundesgesetzgebung und ca. sechzig Prozent der kommunalen Rahmengesetzgebung werden durch europäische Richtlinien und andere Beschlüsse bestimmt oder beeinflusst. Das Subsidiaritätsprinzip wird dabei leider in vielen Fällen zu Lasten der kommunalen Selbstverwaltung missachtet.
Europäischer Einfluss auf die Kommunen zeigt sich aber zweitens natürlich nicht nur in restriktiver Weise. Es sind Milliarden Euro, die jährlich aus den Fonds der Europäischen Union nach Ostdeutschland und in andere Regionen gehen, und von denen nicht zuletzt die Kommunen profitieren, die in vielen Fällen Träger der geförderten Maßnahmen und Investitionen sind. Im allgemeinen werden diese Mittel über die Länder – über die operationellen Programme – ausgereicht, die die Kommission und die Landesregierungen für den Förderzeitraum bis 2006 vereinbart haben. Andere Mittel werden direkt über den Bund realisiert. Die Fälle, in denen die Kommission Fördermittel selbst vergibt sind nicht so häufig, und, wie ich wohl weiß, oft mit hohen sachlichen, bürokratischen und anderen Hürden verbunden. Sich zu informieren und im konkreten Fall um Projekte zu bemühen, lohnt sich jedoch. Wer sich auf die europäische und internationale Dimension kommunaler Politik und Beziehungen rechtzeitig einlässt, wird meiner Meinung nach in Zukunft nur gewinnen können.
Drittens sind die Kommunen direkt von der Wettbewerbspolitik der EU betroffen, die gegenwärtig so sehr im Zentrum europäischer Entwicklung und Integration steht. Insbesondere geht es dabei um das Problem der sogenannten Beihilfen. Es gibt positive Beispiele, so die Beihilfen für die Abgabe von Schulmilch an Kita- und Hort-Kinder denke. Sie ist sicherlich primär eine amrktpolitische Beihilfe, hab aber zweifelsohne eine bedeutsame sozial- und gesundheitspolitische Seite. Ich verkenne auch nicht, dass die europäische Wettbewerbspolitik in einigen Fällen positive Auswirkungen auf die Entwicklung von Verbrauerpreisen und die Qualität von Leistungen hatte. Die Bestrebungen der EU-Kommission, die Leistungen der Daseinsvorsorge umfassend dem Wettbewerbs- und Beihilferecht der Europäischen Union, des europäischen Binnenmarktes zu unterwerfen, stellen jedoch meiner Meinung nach ein sehr großes Problem für die soziale Verpflichtung der Kommunen und ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten dar. Die über die EU-Binnenmarktrichtlinie erfolgte Liberalisierung des Energiemarktes hat einerseits eine zeitweilige Reduzierung von Strompreisen für Verbrauerrinnen und Verbraucher gebracht, andererseits jedoch die Möglichkeiten der Kommunen für die Quersubventionierung kommunaler Dienstleistungen bereits eingeschränkt. Heftig ist derzeit die Auseinandersetzung insbesondere um die Quersubventionierung des öffentlichen Personennahverkehrs, die dem zuständigen EU-Kommissar Monti missfällt und die in diesen Wochen im Europäischen Parlament behandelt wird. Offensichtlich ist es möglich, die radikalsten Forderungen nach einer europaweiten Liberalisierung des kommunalen und regionalen ÖPNV abzuwehren. Die Kommunen sind dennoch gut beraten, sich kurz- und mittelfristig auf weitreichende Veränderungen einzustellen und eigene Vorkehrungen zu treffen. Langfristig sind Subventionierung beziehungsweise Quersubventionierung des ÖPNV und anderer kommunaler Dienstleistungen ohnehin gefährdet, damit soziale und kulturelle Angebote der Kommunen für ihre Bürgerinnen und Bürger, kommunale und regionale Unternehmen, und nicht nur solche in öffentlichem Besitz, sowie Tarifbedingungen.
Viertens: Das Problem der so dominanten Wettbewerbsorientierung geht darüber noch weit hinaus. Die Kommission beabsichtigt, schrittweise die Verpflichtungen zur europaweiten Ausschreibung von Bau-, Liefer- und Dienstleistungen und anderen Aufträgen auszudehnen. In Deutschland vergeben Bund, Länder und Kommunen jährlich Aufträge in Höhe von 400 Milliarden DM. Der Anteil der Kommunen daran liegt bei rund 50 Prozent. Wie weit die Ausschreibungspflicht gehen soll, und wie sie konkret ausgestaltet werden soll, ist bekanntlich zwischen EU-Kommission, Bund und Kommunen umstritten. Die Möglichkeiten der Kommunen, die örtliche und regionale Wirtschaftsentwicklung, vor allem die Entwicklung klein- und mittelständischer Unternehmen im Territorium und tarifliche Orientierungen, positiv zu beeinflussen, werden davon wesentlich bestimmt. Da wir einen europäischen Binnenmarkt haben und keine Diskriminierungen in Europa wollen, werden manche Konsequenzen unvermeidlich sein, die konkrete Ausgestaltung, die Verteidigung und Neugestaltung kommunalen Einflusses, die Perspektiven wirtschaftlicher Regionalisierung, sozialer Orientierung, die Aufrechterhaltung der in Deutschland verfassungsrechtlich vorgegebenen Daseinsvorsorge und die Möglichkeiten, private und kommunale örtliche und regionale Unternehmen zu erhalten und zu fördern dürfen dabei jedoch nicht grundlegend gefährdet werden. Ich möchte sie gern auffordern, in diese Auseinandersetzung einzugreifen, bevor es zu spät ist. Sie werden dabei nicht nur im Europäischen Parlament und in der politischen Linken Partner haben, sondern beispielsweise auch bei den kommunalen Spitzenverbänden Bayerns, die in dieser Auseinandersetzung Positionen zum kommunalen Eigentum oder zur Gefahr entfesselter Märkte formulieren, die ich pauschal und ideologisch oft, in dieser Konkretheit aber selten in der PDS höre.
Fünftens möchte ich wenigstens kurz erwähnt, aber umso eindringlicher betont haben, dass die europäische Integration nach meiner Überzeugung nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Realität, ihrer umfassenden politischen, rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen, ökologische oder kulturellen Konsequenzen für die Kommunen, Staaten und die Bürgerinnen und Bürger ernst genommen werden muss, sondern auch hinsichtlich ihrer politischen Chancen für ein zusammenwachsendes Europa, für gemeinsame Wohlfahrt, für konstruktive Antworten auf die wirtschaftliche Globalisierung, Regionalisierungsmöglichkeiten, kulturellen Reichtum, menschliche Begegnungen. Ich spreche in diesem Zusammenhang von Chancen, nicht davon, dass die aktuelle Politik und die Richtung der europäischen Integration dem gegenwärtig gerecht werden, aber es sind Chancen, die ohne die europäische Integration nicht bestehen würden, für die die Nationalstaaten allein nicht mehr den ausreichenden Rahmen darstellen können. Im Kontext dieses Vortrages kann ich auf dieses Problem nicht eingehen. Ich bitte aber meine Kritik an verschiedenen und sehr wesentlichen Seiten der EU-Politik in keiner Weise als Ablehnung einer weitreichenden europäischen Integration zu stehen.
Es ist sind Gegenteil gerade diese Notwendigkeit und die großen Möglichkeiten, weshalb ich die den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU entschieden befürworte. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich der demokratische Wille der Bevölkerungen in den entsprechenden Staaten. Die Probleme werden enorm sein, insbesondere in den Beitrittsländern selbst, aber auch bei uns, am stärksten sicherlich in den Grenzregionen. Die Auswirkungen werden auch in diesem Fall auf kommunaler Ebene besonders groß sein. Sorgen und Ängste sind sehr ernst zu nehmen. Es ist unverantwortlich, wie wenig die EU-Kommission, die Bundesregierung, die Landesregierungen die Menschen in diesen Prozess einbeziehen. Aber wie in allen Fällen halte ich nichts davon abzuwarten, lediglich zu kritisieren, zu klagen. Das sind tiefe Umbrüche. Wer darauf verzichtet, beteiligt zu sein an ihrer Gestaltung, ihre Richtung zu beeinflussen, der wird selbst umgebrochen. Angesichts der geschichtlichen Bedeutung und der Gefahren, die ein prinzipienloser Ablauf dieser Entwicklungen sozial, wirtschaftlich und demokratisch, vor allem aber für neue nationalistische, ausländerfeindliche und rechtsextreme Stimmungen haben könnte, sind wir zum Verzicht auf diese Anstrengung, zu einem politischen und sozialen Misserfolg der Osterweiterung nicht berechtigt.
Der Beitritt von 10 mittel- und osteuropäischen Ländern sowie von Malta und Zypern stellt zweifellos eine sehr tiefe Zäsur in der Entwicklung der Europäischen Union dar, die tiefste ihrer Geschichte überhaupt. Ohne ihre Integration bliebe die „europäische Einigung“ unvollendet.
Angesichts des Ausmaßes der politischen, juristischen, wirtschaftlichen, sozialen, finanziellen und sicherheitspolitischen Aufgaben und Probleme ist das allgemeine Fehlen umfassender, konkreter und transparenter Strategien bedrohlich. Die finanziellen Planungen sind unzureichend, die ohnehin heftig umstrittenen institutionellen Reformen der EU verdienen kaum ihren Namen, die konkrete Vorbereitung ist in den meisten Fällen, auch innerhalb der Bundesrepublik und der direkt betroffenen Bundesländer, nicht ausreichend, die Information (Nichtinformation) und Beteiligung (Nichtbeteiligung) der Bürgerinnen und Bürger sind ein Skandal.
Dabei ist die EU-Erweiterung längst im Gange (zum Beispiel die wirtschaftliche und handelspolitische Integration Polens und der Tschechischen Republik), und wir sollten erstens darauf vorbereitet sein und zweitens aktiv unterstützen, dass die Verhandlungen schon Ende 2002 abgeschlossen und der Beitritt 2004 vollzogen werden kann.
Nicht eine Abwehr- oder die weit verbreitete Abwartehaltung, sondern die aktive Gestaltung der Osterweiterung ist notwendig. Das gilt umso mehr, als die Wahrnehmung, Nutzung und Gestaltung ihrer großen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und sicherheitspolitischen Möglichkeiten auch die wichtigste Voraussetzung ist, die problematischen und negativen Seiten zu begrenzen und die Ängste real zu zerstreuen. Die schnelle Osterweiterung der EU darf nicht zerredet, nicht gefährdet werden.
Ich möchte hier in Dresden einen Gesichtspunkt hervorheben, der von besonderer aktueller Bedeutung ist und die ostdeutschen Bundesländer sowie die grenznahen Regionen der Beitrittsländer besonders betrifft. Das ist die Auseinandersetzung um ein besonderes Grenzlandförderungsprogramm. Nirgendwo werden die positiven oder negativen Auswirkungen der Osterweiterung so konkret, direkt und individuell sein wie in den Regionen beiderseits der bisherigen EU-Grenze. Die östlichen Grenzregionen in Bayern, Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern verlieren ihre Randlage, rücken in das Zentrum der EU. Neue Kooperations- und weitreichende Entwicklungsmöglichkeiten entstehen. Gleichwohl geht von der EU-Osterweiterung auch ein zusätzlicher struktureller Anpassungsdruck aus.
Die deutsche Wirtschaft ist schon jetzt der größte Gewinner des Beitritts mittel- und osteuropäischer Länder zur EU. Der Exportüberschuss in diese Region beträgt jährlich fast 20 Mrd. DM. Doch für die ostdeutschen Grenzregionen sieht die Situation zumindest gegenwärtig anders aus. Der Hauptgrund liegt in der noch längst nicht abgeschlossenen Systemtransformation und der Zerstörung vieler Industrieunternehmen durch die Treuhand- und Regierungspolitik . Während die alten Bundesländer mit ihren gewachsenen wirtschaftlichen Strukturen für die Osterweiterung gut gerüstet sind, können die ostdeutschen Länder ihren Vorteil der geografischen Nähe zu den Beitrittsländern kaum nutzen. Ihre strukturelle Schwäche umfasst insbesondere:
– Defizite der Infrastruktur,
– unterdurchschnittliche Produktivität infolge relativ geringer Kapitalausstattung und kleiner Absatzmärkte,
– daraus resultierend: zu hohe Lohnstückkosten,
– geringe Forschungs- und Entwicklungskapazitäten für neue Produkte und innovative Technologien,
– die Kapitalschwäche fast aller bestehenden Unternehmen,
– eine weit unter dem bundesdeutschen Niveau liegende Exportquote und
– das dramatische Ausmaß der Arbeitslosigkeit.
Im Osten des Ostens – zum Beispiel im vorpommerschen Uecker-Randow-Kreis, der brandenburgischen Uckermark oder der sächsischen Lausitz – sieht das alles noch dramatischer aus. Auch hier ist in den vergangenen Jahren viel investiert worden. Der wirtschaftliche Effekt jedoch ist gering. Offizielle Arbeitslosenzahlen von mehr als 20, reale von weit über 30 Prozent, die zunehmende Abwanderung gut ausgebildeter junger Menschen, vor allem junger Frauen, verfallene Industriebauten oder neu gebaute Fernstraßen, die an der Grenze zu Polen in einen vom Unkraut überwucherten Fußgänger-Übergang münden (so im vorpommerschen Blankensee), zeugen davon, wie wenig die meisten dieser Regionen auf die EU-Erweiterung vorbereitet sind. Angesichts dieser Situation gab es seit langem Forderungen der ostdeutschen Bundesländer, aber z.B. auch Bayerns und mehrerer europäischer Staaten, den Gebieten entlang der EU-Grenze eine zusätzliche wirtschaftliche und finanzielle Förderung zu gewähren. Der für die Erweiterung zuständige EU-Kommissar Günter Verheugen und sein Kollege Michel Barnier legten am 25. Juli 2001 unter dem Titel „Gemeinschaftsaktion für die Grenzregionen“ Vorschläge für 23 Regionen in Finnland, Deutschland, Österreich, Italien und Griechenland vor. Gemessen an den Versprechungen, die Verheugen bei Besuchen in Ostdeutschland gemacht hatte, ist das Ergebnis finanziell blamabel und politisch skandalös.
Insgesamt beträgt das Finanzvolumen dieses Aktionsplans 245 Millionen Euro. Dabei handelt es sich nicht um zusätzliche Mittel, sondern um Reserven und Umschichtungen im EU-Budget. 50 Millionen Euro sind davon den Grenzregionen der Kandidatenländer spezifisch vorbehalten. Pro Kopf und Jahr handelt es sich um nicht mehr als 6 Euro, die europaweit den Grenzregionen zur Verfügung stehen sollen! Und das angesichts der so offensichtlichen großen Probleme! Im einzelnen geht es um
– 150 Mill. Euro für die Verbesserung grenzüberschreitender Verkehrsinfrastruktur im Rahmen der transeuropäischen Netze (die aber zum beispielsweise Mecklenburg-Vorpommern gar nicht betreffen),
– 15 Mill. Euro für Information und Schulung von klein- und mittelständischen Unternehmern beiderseits der Grenzen,
– 20 Mill. Euro aus dem INTERREG-Programm zur Förderung grenzüberschreitender Kooperationsprojekte,
– 10 Mill. Euro für grenzüberschreitende Bildungs-, Jugend- und Kulturarbeit,
– 50 Mill. Euro für Umwelt- und Verkehrsinvestitionen in den Grenzregionen der Beitrittsländer.
– Darüber hinaus werden bestimmte Finanzierungsbedingungen verbessert.
Das darf nicht das letzte Wort sein! Mit dem Vorschlag der EU-Kommission kann und darf man sich nicht abfinden. Im Europäischen Parlament, fraktions- und länderübegreifend, hat sich die Kritik bereits organisiert. In einer Entschließung vom 4. September 2001 hat das EP das Aktionsprogramm der Kommission als unzureichend eingeschätzt Es hat eine deutliche Erhöhung der finanziellen Mittel für die Grenzregionen gefordert. Nun muss der Widerstand der betroffenen Regionen, vor allem der Menschen dort, hörbar, Druck auf die Bundesregierung und die Kommission spürbar werden. Die Bundesländer müssen ihre Forderungen nachdrücklich vertreten und den für die Erweiterung zuständigen Kommissar Verheugen zur Einhaltung seiner Versprechen veranlassen.
Nur „Brüssel“ zu kritisieren, greift jedoch zu kurz. Gerade die Bundesregierung verweist gern auf die EU-Kommission und verschweigt dabei, dass sie entscheidend beteiligt war, jene Beschlüsse durchzusetzen, die die EU-Osterweiterung im allgemeinen und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Grenzregionen im besonderen so belasten. Hervorzuheben sind zum einen das Versagen der Bundesregierung bei der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland überhaupt („Chefsache Ostdeutschland“, zum anderen ihre maßgebliche Rolle beim Zustandekommen der „Agenda 2000“, der EU-Finanzplanung 2000 bis 2006. Sie hat praktisch von vornherein ausreichende Mittel für die Vorbereitung und Realisierung der Osterweiterung ausgeschlossen. Sie setzt im übrigen sogar eine Diskriminierung der Beitrittsländer voraus, deren Landwirten die Direktbeihilfen der EU vorenthalten werden sollen, wie auch andere Grundsätze für finanzielle und andere Unterstützung zunächst keine gleichberechtigte Anwendung finden sollen, zumindest im Rahmen des beschlossenen Finanzrahmens nicht finden können. Noch 1999 lehnte die Bundesregierung auch ein Sonderprogramm für die eigenen Grenzregionen ab.
Die EU-Erweiterung ist bereits im Gange, und sie wird in wenigen Jahren umfassende Realität sein. Ob sie für die Menschen positiv verläuft, nicht weniger, sondern mehr soziale Sicherheit, mehr und bessere Arbeitsplätze, mehr Stabilität auf dem europäischen Kontinent und mehr an gemeinsamer Kultur bedeutet, das hängt wesentlich von der Politik der Regierungen und der EU-Kommission ab. Um es zu wiederholen : Eines darf nicht passieren – der Beitritt Polens oder der Tschechischen Republik darf nicht zu weiteren wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen beiderseits der jetzigen Grenzen führen und zum Nährboden ausländerfeindlicher, rechtsextremer und nationalistischer Strömungen werden. Das ist die Verantwortung, an der die Vorschläge der EU-Kommission zur Unterstützung der Grenzregionen gemessen werden müssen! Die Osterweiterung der EU muss eine europäische und eine soziale Erfolgsgeschichte werden.
Beiderseits der bisherigen EU-Grenze werden sich die Veränderungen, der Erfolg oder Misserfolg der EU-Erweiterung, die Gewinne und Probleme nicht als abstrakte statistische Zahlen, sondern als Arbeitsplätze oder Arbeitslosigkeit für die dort lebenden Menschen zeigen, als Zukunftsperspektiven oder ihre Gefährdung, als Kontakte zwischen den Menschen oder als Sprachlosigkeit und Misstrauen. Deshalb muss gehandelt werden, anders als durch Kommission und Bundesregierung, energisch, finanziell wirksam, politisch verantwortungsvoll. Es ist bereits viel, zu viel Zeit verloren worden. Ich setze mich daher gegenüber der EU-Kommission und der Bundesregierung sowie dem Europäischern Rat nachdrücklich dafür ein, das Sonderprogramm für die Grenzregionen entscheidend zu verändern:
– Die Grenzregionen müssen eine beträchtliche, substanzielle Aufstockung der Sonderförderung erhalten.
– Die Verkehrsinfrastruktur muss vor allem innerhalb der Regionen und nicht nur für die großen transeuropäischen Netze gefördert werden.
– Klein- und mittelständische Unternehmen müssen wirksame Anpassungshilfen und vor allem Unterstützung für die Entwicklung grenzüberschreitender Kooperation erhalten.
– Dringend notwendig sind europäische und nationale Strategien zur Überwindung der extrem hohen Arbeitslosigkeit in den ostdeutschen Grenzregionen und zur Verringerung der Abwanderung junger Menschen.
– Wesentlich erhöht werden müssen die Mittel für den Jugendaustausch, für grenzüberschreitende und zweisprachige Bildung und Ausbildung, für Kontakte zwischen sozialen und kulturellen Initiativen.
– Die grenzüberschreitende Verknüpfung der unterschiedlichen europäischen und nationalen Förderprogramme und der Zugang zu ihnen müssen grundlegend erleichtert, den Euroregionen dabei eine größere Rolle eingeräumt werden.
Wunschvorstellungen? Ja, die EU-Kommission mauert, die nationalen Regierungen ignorieren die Probleme der Grenzregionen. Aber erstens ist die Dringlichkeit solcher Maßnahmen unbezweifelbar. Zweitens erlebe ich im Europäischen Parlament, dass andere Mehrheiten möglich sind. Zweitens hoffe ich auf Druck aus den Kommunen, Kreisen, Bundesländern, Gewerkschaften, Handelskammern…
Ich danke Ihnen.