Weißbuch der Kommission über die Reform des europäischen Regierens
Rede von Sylvia-Yvonne Kaufmann in Strassburg am 4. September 2001
Frau Präsidentin, Herr Kommissionspräsident,
gut anderthalb Jahre ist es nun her, dass Sie, Herr Prodi die Reform europäischen Regierens zu einem der vier strategischen Ziele der Kommission erklärten. Es gereicht Ihnen zur Ehre, wenn Sie „Ihre“ Kommission – wie frühere Kommissionspräsidenten auch – mit einem persönlichen Markenzeichen versehen wollen.
Ihr Anliegen, endlich Maßnahmen zu ergreifen, um die Kluft zwischen der Union und ihren Bürgerinnen und Bürgern abzubauen, unterstütze ich voll und ganz. Dies tut wohl die große Mehrheit hier im Haus. Schließlich wollen wir gemeinsam, dass das „Europa der Bürger“ nicht länger ein Schlagwort bleibt, sondern Realität wird.
Bei allem Respekt vor Ihrem Anliegen, Herr Kommissionspräsident – ich muss Ihnen in aller Offenheit sagen, dass ich von dem, was nunmehr vorliegt, doch enttäuscht bin.
Ich habe das Weißbuch Bürgerinnen und Bürgern in die Hand gegeben und sie gefragt, was sie darüber denken. Wissen Sie, worin sofort das Problem bestand? Darin, dass überhaupt nicht verstanden wurde, was auf den über 40 Seiten Text geschrieben steht. „Das ist doch lauter EU-Chinesisch“ erhielt ich als Antwort. Wie – so frage ich mich – soll denn die Kluft überbrückt werden, wenn schon die Sprache den eigentlichen Adressaten nicht erreicht?
Ja, das Weißbuch enthält positive Ansätze, wie die Stärkung der Rolle des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen oder verstärkte Konsultationen mit Organisationen der Zivilgesellschaft.
In dieser ersten Debatte heute möchte ich einige kritische Fragen kurz anreißen.
Das politische Grundproblem des Weißbuches zeigt sich meines Erachtens gleich am Beginn. Dort heißt es: „Die Menschen halten die Union für unfähig, dort zu handeln, wo gehandelt werden muss, zum Beispiel bei der Arbeitslosigkeit…“
Diese Problemanalyse stimmt doch einfach nicht. Die Bürgerinnen und Bürger halten die Union nicht für unfähig… Sie erleben vielmehr seit Jahr und Tag, dass sich die Union und ihre Mitgliedstaaten als unfähig erweisen. Die Bürgerinnen und Bürger wollen vor allem eines, nämlich dass ihre Alltagsprobleme gelöst werden. Das muss das politische Ziel guten Regierens sein und das bedeutet dann, dass man die eigene Politik ändern muss, wenn die Regierten unzufrieden sind. Genau diesen Mut bringt das Weißbuch jedoch nicht auf.
In Ihrer Rede heute, Herr Prodi, haben Sie völlig zurecht gesagt: „Wenn wir von Governance sprechen, diskutieren wir in Wirklichkeit über Demokratie.“ Ja, hier und heute sprechen Sie das Problem der Demokratisierung der Union an. Aber warum finden sich davon nur Spurenelemente im Weißbuch? Der Begriff Demokratie bzw. Demokratien kommt im Text ganze drei Mal vor. Die Stärkung der Demokratie in Europa – das hätte der zentrale politische Leitfaden des Weißbuches sein und als solcher auch ausgewiesen werden müssen.
Noch ein Wort zur Frage der Vertragsänderungen. Das Weißbuch sieht eine Konsultationsphase bis März 2002 vor. Weitere sechs Monate später sollen dann die endgültigen Vorschläge vorliegen.
Mir scheint es schon etwas absurd, im Herbst nächsten Jahres Vorschläge zu erhalten, die auf der Ebene der bestehenden Verträge gemacht werden, wenn zu diesem Zeitpunkt aber bereits seit neun Monaten intensivst – hoffentlich durch einen Konvent – an der Veränderung eben dieser Verträge gearbeitet wird.
Der von Ihnen formulierte Verzicht auf Vertragsänderungen wird meines Erachtens nicht durchzuhalten sein. Ganz abgesehen davon, dass Sie selbst im Weißbuch Vertragsveränderungen vorschlagen.
Alles in allem, Herr Kommissionspräsident – die Redebeiträge meiner Kolleginnen und Kollegen bestärken mich darin – es gibt erheblichen Diskussionsbedarf zu diesem Weißbuch. Ich biete Ihnen den kritischen Dialog und Zusammenarbeit dazu an.