Völlig unbefriedigende Situation

Rede im Namen der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordisch Grüne Linke Europäischen Parlament am 4. September 2001 zur Osterweiterung der Europäischen Union von André Brie in Strassburg:

Sehr geehrte Frau Ratspräsidentin, sehr geehrter Herr Kommissar, liebe Kolleginnen und Kollegen,
die Mehrheit meiner Fraktion misst dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU strategische Bedeutung zu und begrüßt ihn. Wir sehen ihn als einen möglichen Beitrag zu einer stabilen europäischen Sicherheitsarchitektur, als Öffnung Westeuropas für den menschlichen, kulturellen und sozialen Reichtum in Osteuropa und als Chance für eine gemeinsame positive wirtschaftliche Entwicklung an. Der Beitrittsprozess könnte zudem weit mehr als die folgenschwerste geografische Erweiterung der EU sein. In einer Situation, in der die Regierungen die europäische Integration mit den Beschlüssen und Nichtbeschlüssen von Nizza zum Stillstand gebracht haben, könnte er zum Projekt einer demokratischen und sozial orientierten Erneuerung der gesamten Europäischen Union werden.

Dieser geschichtlichen Aufgabe steht jedoch die Realität einer eher kleinlichen und kurzsichtigen Politik der EU und der nationalen Regierungen gegenüber. Ich verkenne nicht die Verhandlungsfortschritte und die Unterstützung der EU für den Beitrittsprozess, doch gemessen an den Herausforderungen, Erfordernissen und politischen Chancen, ist die gegenwärtige Situation völlig unbefriedigend, die Politik teilweise unverantwortlich.

Insbesondere betrifft das folgende Fragen:

Erstens: Die Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger ist nahezu Null.

Zweitens: Die Chance, die Osterweiterung für die demokratische und soziale Gestaltung und Erneuerung der europäischen Integration sowie die Überwindung der Nizza-Krise zu nutzen, wird nicht genutzt, nicht einmal angestrebt. Die Erweiterung nach meiner Einschätzung für die Regierungen bleibt primär ein vertragstechnischer und territorialer Prozess. Die geschichtliche Bedeutung wird hinsichtlich der Vergangenheit, aber nicht der Zukunft erkannt.

Drittens: Der Beitrittsprozess wird nicht als ein Prozess der Gleichberechtigung der Beitrittsländer realisiert. Das betrifft beispielsweise die diskriminierenden Übergangsfristen für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Dramatisch ist auch die Ungeklärtheit der künftigen Finanzhilfen und Transfers, darunter für die Landwirtschaft bei der Beitrittsländer. auf fast allen Gebieten.

Viertens: Der kürzlich erfolgte Beschluss der Kommission zur Finanzierung der Grenzregionen ist – ich sage das so deutlich – unverantwortlich. Die Versprechungen, die Sie, Herr Kommissar Verheugen, den entsprechenden Regionen vor einem Jahr gemacht haben, sind nicht eingehalten worden, obwohl Sie wissen, wie dringend erforderlich umfassendere Anpassungs- und Strukturentwicklungshilfen gewesen wären. Wer will, dass der Beitritt eine wirtschaftliche, soziale und politische Erfolgsgeschichte und nicht der Nährboden für nationalistische Stimmungen wird, muss eine prinzipielle Veränderung dieser Kommissionspolitik fordern.

Fünftens: In Nizza ist die Zahl der tschechischen und ungarischen Abgeordneten des EP mit einem demokratiewidrigen Resultat entschieden worden. Das wurde bisher nicht korrigiert und ist ein fortgesetzter Skandal. Dass ich im Ausschuss die Unterstützung der konservativen und anderer Abgeordneten für meinen Änderungsantrag, nicht aber die der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten erhielt, befremdet mich noch heute. Ich kann mir das nicht anders als eine völlig unangebrachte Rücksichtnahme auf die Position der sozialdemokratisch geführten Regierungen erklären, meine aber, dass das EP kompromisslos und fraktionsübergreifend eine Veränderung dieser undemokratischen Festlegung fordern muss.

In den Berichten meiner Kolleginnen und Kollegen finde ich glücklicherweise andere Positionen und möchte ihnen daher ausdrücklich danken. Sie machen deutlich, dass das Europäische Parlament der entschiedenste Verfechter eines raschen und sorgfältig vorbereiteten Beitritts der mittel- und osteuropäischen Staaten zur EU ist. Ich schließe in diese Wertschätzung die Stellungnahmen der anderen Ausschüsse ein und bedauere, dass insbesondere Positionen des beschäftigungs- und des regionalpolitischen Ausschusses nicht umfangreicher berücksichtigt wurden.

Das ist umso ärgerlicher als die Osterweiterung nicht nur die nach Zahl der Länder, Sprachen, Territorium und Bevölkerung größte Ausdehnung der EU darstellt, sondern erstens eine historische Bedeutung besitzt, die nur mit den Gründungsakten der europäischen Integration in den 50er Jahren verglichen werden kann, zweitens eine bisher kaum diskutierte grundsätzliche kulturelle Öffnung und Bereicherung der Union darstellt, drittens wirtschaftspolitische und soziale Herausforderungen völlig neuen Ausmaßes bedeutet, viertens äußerst weitreichende außen- und sicherheitspolitische Konsequenzen besitzt.

In diesem Zusammenhang wird meiner Meinung nach in der Politik der Regierungen, der Kommission und leider auch in den Positionen des Europäischen Parlaments die sozial- und beschäftigungspolitische Dimension der Erweiterung sträflich missachtet, obwohl der beschäftigungspolitische Ausschuss nachdrücklich auf sie hingewiesen hat.

In der vom Kollegen Brok formulierten und vom Ausschuss bestätigten mündlichen Anfrage zum Gesamtprozess der Osterweiterung sehe ich in vielen Fragen eine bedenkenswerte, kritische Haltung zur gegenwärtigen Erweiterungsstrategie. Ich stimme der Forderung nach einer konsequenten Einhaltung des Beitrittsfahrplanes ebenso zu wie der Forderung nach demokratischen Reformen der EU. Es gibt aber auch zwei grundsätzliche Differenzen.

Erstens ist die stereotype Orientierung auf wirtschafts- und sozialpolitische Deregulierung und Privatisierung geeignet, unakzeptable soziale Spaltungen und Zerstärungen in Kauf zu nehmen.

Zweitens: Wenn erklärt wird, dass sich die Erweiterung von EU und NATO sinnvoll ergänzen würden, so stelle ich entweder ein Fehlen jeder ernsthaften außen- und sicherheitspolitischen Zukunftskonzeption oder die gefährliche Missachtung der unvermeidlich negativen Implikationen der NATO-Ausdehnung fest. Die hat ohnehin zwei Richtungen. Zum einen soll die NATO offensichtlich UNO und OSZE sowie völkerrechtliche und zivile Konfliktprävention und -lösung verdrängen. Die aktuellen Entwicklungen auf dem Blakan zeigen wie bedrohlich und kontraproduktiv diese Strategie ist. Zum anderen soll die NATO umfassend an die russischen Grenzen ausgedehnt werden, obwohl es trotz aller Beteuerungen nicht einmal eine Strategie für die Entwicklung des europäisch-russischen Verhältnisses gibt. Ich befürchte, dass wir mit einer solchen Politik und Konzeptionslosigkeit sehenden Auges die Zerstörung der Chancen für eine stabile und kooperative europäische Friedensordnung in Kauf nehmen. Ich möchte die Kollegen daher bitten, meinen Änderungsantrag zu dieser passage zu unterstützen.

Abschließend, Herr Kommissar, Frau Ratspräsidentin, bleibt es der Wunsch meiner Fraktion, dass die Bürgerinnen und Bürger die Erweiterung nicht primär durch Hochglanzbroschüren, sondern durch eine demokratische, soziale und ökologische Realität als ihre Angelegenheit erleben und mitgestalten können.