Zur Situation der Werften in der EU
Rede von André Brie im Namen der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken(Nordische Grüne Linke) in der Debatte des Europäischen Parlaments am 12. März 2001
Frau Präsidentin, Herr Kommissar,
die derzeitige Stabilisierung der europäischen Schiffbauindustrie hat hauptsächlich konjunkturelle Gründe und kann kaum als eine nachhaltige Besserung der Situation betrachtet werden. Die globale Standortkonkurrenz, wie sie von der Welthandelsorganisation und nicht zuletzt von der Europäischen Union vorangetrieben wird, erweist sich als höchst problematisch für die Werftindustrie in der EU und insbesondere für die Beschäftigten. Die Wettbewerbsverzerrung ist massiv. Die Anstrengungen der Kommission, das zu ändern, sind bisher wenig wirkungsvoll. Ohnehin wird von allen Beteiligten abgelehnt, die weltweite Marktliberalisierung durch soziale oder auch ökologische Standards zu ergänzen. Unter diesen Bedingungen ist der Standortwettbewerb zum Teil wirtschaftlich, vor allem aber sozial und beschäftigungspolitisch bedrohlich. Die Streichung der auftragsbezogenen Produktionsbeihilfen ab Beginn dieses Jahres durch die Kommission hat die Situation der Werftindustrie in der EU bereits empfindlich verschlechtert. Für den absehbaren Fall der internationalen Konjunkturabschwächung kann die gerade erst überwundene strukturelle Krise wieder voll aufbrechen.
Ich möchte meine kurze Redezeit aber vor allem nutzen, um auf die besonderen Probleme der Werften in Ostdeutschland, in Mecklenburg-Vorpommern hinzuweisen. Sie sind zusätzlich mit einer Produktionsbeschränkung konfrontiert. Ich weiß sehr wohl, dass sie die Bedingung für die hohen Beihilfen bei der Werftenmodernisierung in den neunziger Jahren waren. Aber erstens sind die Quoten derart starr organisiert, dass sie sich als markt- und technologiewidrig zeigen und praktisch eine deutliche zusätzliche Absenkung unter die vereinbarten 327.000 gewichteten Bruttoregistertonnen bedeuten. Zweitens wurde nicht berücksichtigt, dass alle vier Werften in Mecklenburg-Vorpommern natürlich weiterhin aus eigener Kraft investieren und investieren müssen. Immerhin beträgt der jährliche Rationalisierungsfortschritt in der europäischen Werftindustrie 8 bis 10 Prozent. Das Wachstum der Produktivität wird angesichts der Produktionsbeschränkungen nun zum Ausgangspunkt weiteren Belegschaftsabbaus. Die Kommission hat sehr gute statistische Analysen über die wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Situation in Ostdeutschland. Aber es ist das eine, zu lesen, dass dort mehr als jeder Dritte einen Arbeitsplatz sucht, und es ist etwas anderes, diese Situation und die betroffenen Menschen und Regionen unmittelbar zu erleben. Die maritime Industrie stellt in Mecklenburg-Vorpommern den Kern der verbliebenen industriellen Struktur dar. Vor allem viele klein- und mittelständische sind unmittelbar von ihr abhängig.
Herr Kommissar, ich möchte nicht missverstanden werden: Die Europäische Union hat sich seit 1990 als ausgesprochen solidarisch mit Ostdeutschland erwiesen. Die Kommission selbst hat viel unternommen. Ein ausreichender Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Situation ist bisher aber bei weitem nicht erreicht worden. Wie gefährlich die Konsequenzen sind, weiß jeder. Auch der um sich greifende Rassismus findet dort einen Teil seines Nährbodens. Natürlich ist in erster Linie die deutsche Bundesregierung gefordert, zu einer grundlegenden Veränderung beizutragen. Im konkreten Fall der Werftindustrie liegt die Entscheidungskompetenz jedoch bei der Kommission und beim Rat. Der Amsterdamer Vertrag bietet der Kommission genügend Spielraum, um in solchen Situationen politisch aktiv zu werden. Auch die Vereinbarung über die erwähnten Produktionsbeschränkungen sieht nach der Hälfte der Laufzeit, also 2001, eine Überprüfung und Veränderung zu. Ich appelliere nachdrücklich an den Rat und die Kommission, diese Chance zu nutzen. Ich behaupte, dass es ein gemeinsames europäisches Interesse geben muss, weiter und intensiv zur Verbesserung der beschäftigungspolitischen und wirtschaftlichen Lage in Ostdeutschland beizutragen.
Meine Mindestforderungen sind erstens die Flexibilisierung der Quoten, so dass sie nicht mehr jährlich, sondern für die verbleibenden fünf Jahre angewendet werden. Zweitens sollten die Rationalisierungseffekte in der europäischen Werftindustrie von jährlich 8 bis 10 Prozent berücksichtigt und in ihrem Maße die Quoten erhöht werden, um keine weitere Reduzierung der Beschäftigtenzahlen zu verursachen. Drittens fordere ich angesichts der massiven internationalen Wettbewerbsverzerrung die Kommission auf, die allgemeinen Produktionsbeihilfen wieder einzuführen, so lange keine Einigung mit Südkorea erreicht worden ist.