Rede auf der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Hans Modrow

von Hans Modrow, Mitglied des Europäischen Parlaments Brandenburg am 23. November in Potsdam

Es ist nicht so, dass Terror und Terrorismus mit dem 11. September zum ersten Mal Gesicht und Namen bekommen haben. Dennoch weisen diese Attentate Besonderheiten auf, was ihre Methode, ihre Logistik und ihre heimtückische Grausamkeit betrifft – einschließlich der Möglichkeit, dass sie sich in dieser oder jener Form wiederholen könnten. Der 11. September 2001 hat eine Vorgeschichte – und er könnte zu einer Zäsur für die folgenden Jahre und Jahrzehnte werden.

Die schrecklichen Ereignisse vom 11. September haben die Tiefe der Veränderungen der letzten Jahre vor Augen geführt, aber sie haben die Welt nicht verändert. Die Behauptung, dass die Welt nicht mehr so sei wie sie war, dient den USA als einziger verbliebener Supermacht dazu, ihr Streben nach globaler Machtentfaltung und zur Durchsetzung der strategischen Interessen noch offener und brutaler voranzutreiben.

Bei aller Anteilnahme für die Opfer der Anschläge können und dürfen wir nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass die USA selbst eine erhebliche Mitverantwortung für das Aufkommen und die Ausbreitung des Terrors tragen, der sich nun gegen sie selbst gekehrt hat. Wiederholt haben die USA das Mittel des Staatsterrors zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele eingesetzt, in Chile beim gewaltsamen Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Salvadore Allende, bezeichnender Weise auch an einem 11. September, in Kuba, Grenada und Panama, in Korea und Vietnam, die Aggression gegen Jugoslawien nicht zu vergessen. In den Augen vieler Menschen gelten die USA darum als eine gewaltbereite, aggressive Macht. Nicht von ungefähr fragten Kommentatoren in den USA nach dem 11. September, warum sich die USA in der Welt so viele Feinde gemacht haben. Um die Weltöffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen, verkündete Präsident Bush erpresserisch: Wer nicht für und mit uns ist, der ist für den Terrorismus. Die USA zielen damit auf eine politische Polarisierung, auf die Schaffung einer breiten Allianz, die vordergründig der Bekämpfung des internationalen Terrorismus dient, in Wirklichkeit als Tarnung für die Erreichung weiterreichender strategischer Ziele herhalten soll.

Diese Taktik scheint bislang aufzugehen, Großmächte wie Russland und China haben im UNO-Sicherheitsrat einer Resolution zugestimmt, die den USA praktisch einen Feibrief für Intervention ausstellt. In vorauseilendem Gehorsam hat die NATO, ohne von den USA aufgefordert worden zu sein, den Bündnisfall nach Artikel 5 ihrer Charta ausgelöst, was die Mitglieder verpflichtet, den USA jede erforderliche Hilfe zu leisten. Mit seinem Bekenntnis zur uneingeschränkten Solidarität hat Kanzler Schröder das Signal auf Grün für eine deutsche Beteiligung an dem Feldzug gegeben – mit der Anforderung von 3900 Bundeswehrsoldaten samt Technik wird dies konkret: Deutschland wird in den Bergen des Hindukusch, weitab von den eigenen Landesgrenzen und den Bündnisgrenzen, Krieg führen.

Obwohl der kalte Krieg vorbei ist, bewegt sich das herrschende politische Denken in den Kategorien von damals, wird die Welt wie eh und je in Gut und Böse eingeteilt. Damals war diese Einteilung mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen und ihren Zentren verbunden. Für Ronald Reagan ging alles Übel vor allem von Moskau aus, die Sowjetunion war das Reich des Bösen. Bush braucht Russland für seine Allianz, deshalb musste der Standort des Bösen verlagert werden, also wurde die Kategorie von sogenannten Schurkenstaaten erfunden. Bis zum 11. September gehörte Afghanistan trotz brutalster Vergewaltigung der Menschenrechte durch die Taliban seit über einem Jahrzehnt nicht dazu – nach den Anschlägen steht das Land an der Spitze der Staaten, die man ungestraft in die Steinzeit zurückbomben darf, wenn sie da nicht schon leben würden. Die Frage muss erlaubt sein, was wird, wenn dieses Beispiel Schule macht. Gegen wen wird sich als nächster der Zorn der USA richten? Irak? Syrien? Nordkorea? Oder gar Kuba?

Mit der gängigen Schwarz-Weiß-Malerei werden bewusst die wirklichen und tiefer liegenden Ursachen für Krisen und Konflikte verdrängt. Die internationale Entwicklungspolitik, mit der ich mich im EP beschäftige, steckt schon seit Jahren in einer Sinn- und Rechtfertigungskrise. Die Probleme, auf deren Lösung sie eigentlich gerichtet ist, haben sich ungeheuer verschärft. Die Armut ist nicht reduziert worden, sie wächst insgesamt, während einige Regionen Fortschritte bei der Versorgung verzeichnen, fallen andere Länder, für die Armut undenkbar war, zum Beispiel in der ehemaligen Sowjetunion, inzwischen in diese Kategorie, doch auch innerhalb der Industriestaaten nimmt die Polarisierung zwischen arm und reich zu. Die Verteilungskonflikte um die sich verknappenden Naturressourcen spitzen sich zu. Die Länder des Nordens sehen es als ihr Recht an, über Erdöl und Erdgas und andere Rohstoffe verfügen zu können. Ganz gleich, wo sich die Vorkommen befinden, werden sie zu Interessengebieten erklärt, in denen man seine Interessen durchsetzt – notfalls mit militärischer Gewalt, wie seinerzeit im Golfkrieg oder auf dem Balkan, wo es wie in allen Kriegen letztlich um ökonomische Interessen ging. Und dass die Multis schon seit längerem ein begehrliches Auge auf Mittelasien geworfen haben, ist wohl kein Geheimnis.

Das Europäische Parlament ist nicht blind für die Prozesse, die sich in der Welt vollziehen, und auch nicht davon unberührt. Krisenprävention ist zu einem zentralen Thema europäischer Politik geworden, es wurden lange Listen über die Instrumente und Wege zur Konfliktprävention erstellt, doch bleiben die erreichten Resultate weit hinter den Erwartungen und Erfordernissen zurück. Das liegt zum einen daran, dass nicht bis an die historischen, ethnischen, ökonomischen und sozialen Wurzeln der Konflikte gegangen wird, denn in dem Falle stünden nahezu alle EU-Staaten selbst in der Pflicht und Schuld. Zum anderen wird nicht oder nur ungenügend die Komplexität der Konflikte analysiert.

Die USA haben als Antwort auf Hass und Rache, die im Terrorismus ihren Ausdruck finden, den Krieg als Mittel der Politik zur Anwendung gebracht. Ist schon das Mittel falsch, so wirft die Art und Weise, wie es zum Einsatz kommt, lauter neue Fragen auf. Gegen Hass und Rache mit Krieg zu reagieren, setzt die Spirale von wachsendem Hass und wachsender Rache in Bewegung. Die Hoffnungen der ersten Tage nach dem 11. September, dass die Führung der USA mit Bedacht, Vernunft und Augenmaß reagieren würde, waren spätestens am Abend des 7. Oktober, als die ersten Bomben und Raketen einschlugen, verflogen. Das Gefährliche daran ist, dass die Welt auf Grund des unberechenbaren Handelns der USA mit in einen Strudel der Unsicherheit gezogen ist, ohne dass ein Konzept erkennbar ist, wie dem Terrorismus wirklich und nachhaltig zu begegnen wäre.

Die Welt befindet sich am Beginn des 21. Jahrhunderts in einem Prozess tiefgreifender Veränderungen, die immer unübersichtbarer und verwirrender erscheinen. Die terroristischen Anschläge vom 11. September verlangen für das Heute Besonnenheit – sie erfordern aber über den Tag hinaus, über die Zukunft der Erde nachzudenken.

Um den Terrorismus auszumerzen, ihn seiner Wurzeln zu berauben, ist es unabdingbar, eine neue Weltwirtschaftsordnung zu gestalten, die im so genannten Süden, in den Ländern der Dritten Welt, zu einer selbsttragenden Wirtschaft führt, das Nord-Süd-Gefälle in der Welt und das wachsende West-Ost-Gefälle in Europa schrittweise überwinden hilft. Mancher mag einwenden, das sei altes Denken, doch mir scheint, dass das, was wir gegenwärtig erleben, das eigentliche alte Denken und alte Handeln in Potenz ist! Wenn der 11. September uns eines lehrt, dann dies: Um des Überlebens der Menschheit willen ist eine Umkehr in Denken und Verhalten notwendig, das Raum für neues Handeln gibt.