Der Vertrag von Nizza und die Zukunft der Europäischen Union

Rede von Sylvia-Yvonne Kaufmann am 30. Mai in Brüssel.

Frau Ratspräsidentin, Herr Präsident, Herr Kommissar Barnier,

viele Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses sehen den Vertrag von Nizza kritisch. Auch ich und meine Fraktion sind zutiefst besorgt über die Zukunft der Europäischen Union, denn viele der Fragen, die die alltäglichen Sorgen und Nöte der Menschen bestimmen, sind nach wie vor nicht gelöst oder werden nur halbherzig angepackt.

Nizza hat die Gemeinschaft geschwächt. Nizza war ein integrationspolitischer Rückschritt – von gestärkter Demokratie, mehr Transparenz, mehr Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit keine Spur! Der Vertrag hat – wie es im Bericht zu Recht heißt – in der Tat höchstens formell Hindernisse für die Erweiterung beseitigt.

Von daher möchte ich meinen beiden Kollegen, Herrn Mendez de Vigo und Herrn Seguro, für ihre engagierte Arbeit als Berichterstatter danken, denn ihr Bericht widerspiegelt die überwiegend kritische Sicht dieses Hauses auf den Vertrag.

Der Rat in Nizza offenbarte, dass die Regierungen letztendlich nur für den Erhalt ihrer nationalen Vetorechte kämpfen. Die Union steht vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte, aber statt die drängenden Probleme energisch anzupacken, verzettelten sich die Regierungen hinter verschlossenen Türen.

Daher muss aus meiner Sicht Post-Nizza genutzt werden, um die Union vor Nizza zu retten. Ich will hier einige Punkte ansprechen, die mir wichtig sind.

Unbedingt erforderlich ist, die Zahl der Sitze für Tschechien und Ungarn im Europäischen Parlament umgehend zu korrigieren. Eine Diskriminierung dieser beiden Länder bei ihrer parlamentarischen Repräsentanz in diesem Haus darf es nicht geben.

Post-Nizza muss eine ehrgeizige, wirklich tiefgreifende Reform in Angriff nehmen. Eine Reform, die zweierlei leisten muss: Zum einen dürfen die erreichten Integrationsfortschritte nicht rückgängig gemacht werden. Ich möchte an dieser Stelle mit Nachdruck betonen, dass ich die Vorstellungen der deutschen Bundesregierung zur Renationalisierung der Agrarpolitik und insbesondere der Strukturfonds nicht teile. Und zwar deshalb nicht, weil dies darauf hinausläuft, eine der zentralen Säulen der Union, das Prinzip des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten in Frage zu stellen.

Zum anderen ist eine Reform vonnöten, die die Union tatsächlich zukunftsfähig macht. Eingeleitet werden muss daher ein verfassungsähnlicher Prozess, in dessen Ergebnis ein geeintes Europa durch den Willen seiner Bürgerinnen und Bürger konstituiert wird.

Dazu gehört eine europaweite, offene und breite öffentliche Debatte. Ja, sie ist unverzichtbar. Unterstreichen möchte ich: Nizza hat offenbart, dass die Methode der Regierungskonferenz überholt ist. Sie ist nicht mehr der geeignete Weg, um Europa substanziell voranzubringen. Wir brauchen eine andere Methode, wir brauchen einen Konvent, an dem Abgeordnete der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments gleichberechtigt mit den Vertretern der Regierungen Vorschläge für die Gestaltung der Zukunft Europas entwickeln.

Ich unterstütze ausdrücklich die im vorliegenden Bericht enthaltene Forderung, dass der angestrebte neue Vertrag im Ergebnis der nächsten Regierungskonferenz bereits im Dezember 2003 angenommen werden soll. Denn es darf nicht sein, dass die Regierungskonferenz erst im Jahr 2004 einberufen wird, zu einem Zeitpunkt, wo die Legislaturen von Kommission und Parlament auslaufen und beide Institutionen nicht mit voller Kraft beteiligt sein können.

Meine Damen und Herren,

so wichtig und unverzichtbar Entscheidungen über die künftige institutionelle Struktur Europas auch sind: Nicht vergessen werden darf, die Inhalte europäischer Politik zu hinterfragen. Die Zukunft Europas darf nicht auf Markt und gemeinsame Währung begrenzt bleiben. Ich begrüße es, dass der französische Premierminister Lionel Jospin in seiner jüngsten Rede die Ziele der Politik der Europäischen Union in den Mittelpunkt stellte und sich in seinen Überlegungen nicht, wie vor ihm Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer, weitgehend auf Fragen der institutionellen Reform der EU beschränkte. In der Tat ist gegenwärtig die Debatte über den Inhalt der Politik der Europäischen Union vordringlicher als die Diskussion über ihre finale institutionelle Gestalt.

Gerechtigkeit, Solidarität und Sozialpolitik müssen zentrale Werte und Aufgaben der Gemeinschaft sein. Von daher sind die Vorschläge Jospins zur engeren Koordinierung der Wirtschaftspolitiken und zur Bildung einer EU-Wirtschaftsregierung sowie zur Einrichtung eines Konjunkturfonds zur Unterstützung von EU-Mitgliedstaaten in Krisenzeiten höchst aktuell. Sozialdumping darf nicht länger Alltag in der Europäischen Union sein. Dringlich ist in der Tat eine Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung sowie die Schaffung einer Sozial- und Beschäftigungsunion als integraler Bestandteil der politischen Union Europas gehören endlich auf die europäische Tagesordnung, und zwar an die erste Stelle.