Zu den beschäftigungspolitischen Leitlinien 2002 und zum Beschäftigungsbericht 2001, Weiler-Bericht
Rede von André Brie am 23. Oktober 2001 in Brüssel
Ich stimme vielen Einschätzungen und Schlussfolgerungen der Kollegin Barbara Weiler zu und möchte ihr ausdrücklich für ihre Arbeit danken. Auch in den beschäftigungspolitischen Leitlinien 2002 und im Beschäftigungsbericht 2001 finde ich sehr viel Vernünftiges. Es gibt für mich jedoch ein großes ABER. Und dieses Aber bezieht sich auf die entscheidende Frage, nämlich die Realität und Politik in der EU und in den Mitgliedsländern.
Ich hebe drei Probleme hervor:
Erstens ist das in Lissabon verkündete Ziel der Vollbeschäftigung zwar jeder Unterstützung wert, aber es ist wenig davon zu sehen, dass die EU es wirklich erreicht und erreichen will. Die Vorstellung es über ein jährliches Wachstum von 3 Prozent in den nächsten zehn Jahren zu erreichen, war von vornherein illsuionär. das ist inzwischen auch völlig offensichtlich. Andere, realistischere Möglichkeiten, wie ein ökologischer Umbau, Arbeitszeitverkürzungen, die Entwicklung eines dritten Wirtschaftssektors für soziale, ökologische und kulturelle Dienstleistungen blieben dagegen weitgehend unberücksichtigt.
Zweitens ist die beschäftigungspolitische Entwicklung in der EU gespalten. Arbeitslosenzahlen sind leicht rückläufig (in Deutschland allerdings steigen sie inzwischen auch wieder). Aber die Erwerbslosenrate ist in der EU immer noch doppelt so hoch wie in den siebziger Jahren. Die Vollzeitbeschäftigung bei Technikern, Ingenieuren, leitenden Angestellten ist gestiegen. Vielleicht gehören sie zu den Modernisierungsgewinnern. Aber der größte Teil der neuen Arbeitsplätze waren Teilzeitjobs, befristete und sozial prekäre Arbeitsverhältnisse. Sie machten 1999 etwa 30 Prozent der Gesamtbeschäftigung, bei Frauen sogar 45,7 Prozent aus. Die Beschäftigungsentwicklung ist Motor einer neuen sozialen Spaltung geworden, deren ganze, negative Auswirkungen sich erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zeigen werden.
Drittens: Die Beschäftigungspolitik in den EU-Staaten und die Vorstellungen der EU-Kommission missachten weitgehend den sozialen Gehalt von Arbeit. Das Arbeitsvertragsrecht wird gelockert bzw. flexibilisiert, wie es neoliberal heisst, die Weichen zu einem staatlich geförderten Niedriglohnsektor werden gestellt, für Langzeitarbeitslose wird sogar das Recht auf freie Berufswahl und ein frei gewähltes Arbeitsverhältnis ausgehöhlt.
Ich wünschte mir, dass insbesondere die europäische Sozialdemokratie sich ihrer solidarischen Tradition wieder besinnen und an unserer Seite stehen würde, damit europäische und nationale Beschäftigungspolitiken nicht primär Vehikel für Unternehmensinteressen werden, wie es gegenwärtig und beschleunigt der Fall ist.