Stand der Beitrittsverhandlungen
Rede von André Brie am 3. Oktober im Europaparlament
Mit dieser Erweiterung werden letztlich die Grundkonstruktion, ja die Geschichte und die Perspektive der EU zur Überprüfung und neuen Entscheidung aufgerufen. Wir wissen alle, wie tief und zum Teil schockartig der Beitritt auch in die wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Entwicklung der betreffenden Länder eingreifen wird. Diese Probleme, wie die EVP in einem Änderungsantrag, allein auf die frühere „Zwangswirtschaft“ zu reduzieren, ist ein Unernst, der der gemeinsamen Herausforderung in keiner Weise gerecht wird.
Ich hätte mich gern konkret mit der Erweiterungspolitik des Rates auseinandergesetzt, aber das hätte vorausgesetzt, dass diese Politik überhaupt offen definiert werden würde. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es alles andere als verwunderlich, dass die Erweiterung kaum im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger ist oder immer stärker von Sorgen und Verdächtigungen begleitet wird.
Die heutige Debatte und alle dreizehn Berichte sind demgegenüber vom gemeinsamen Engagement großer Teile des Parlaments für die Osterweiterung im allgemeinen und für ihre verantwortungsbewusste und zukunftsorientierte Gestaltung gekennzeichnet. Für mich sind bei allen Problemen drei Kritierien wichtiger als die nicht geringe Kritik, die ich im Einzelnen habe:
Erstens ist der demokratische Wunsch der betreffenden Staaten und Völker nach Beitritt zur EU zu respektieren. Der ist bisher existent, wird aber offensichtlich durch die bürokratische Intransparenz der EU-Politik und den offensichtlichen Widerstand einiger Regierungen gefährdet. Es ist daher dringend erforderlich, keine Verschiebung der institutionellen Reform der EU sowie der Erweiterung zuzulassen und den einzelnen Ländern mögliche Zieldaten zu nennen.
Zweitens: Ich gehöre zu jenen, die die aktuelle EU-Entwicklung wegen ihrer neoliberalen und monetaristischen Tendenz mit Beunruhigung sehen. Die verschiedenen Berichte widerspiegeln diesen mainstream leider auch. Nichtsdestotrotz muss aber die wirklich historische Chance der Erweiterung für Stabilität und Sicherheit, für die Entwicklung kultureller Vielfalt und für die Gestaltung eines großen Wirtschaftsraumes in Europa verteidigt werden, insbesondere durch die Einbeziehung osteuropäischer Staaten.
Drittens: Die Akzeptanz der Erweiterung und ihre positive Perspektive für die einzelnen Länder und für die EU als Ganzes hängen, das hat die kürzliche Volksabstimmung in Dänemark bewiesen, maßgeblich davon ab, dass die Sozial- und Demokratiedifizite europäischer Politik abgebaut werden. Es kann daher nicht nur Forderungen an die Beitrittsländer geben. Die Erweiterung ist wesentlich eine Herausforderung an die Reform der EU selbst und eine immer noch offene Möglichkeit für die soziale, beschäftigungspolitische und demokratische Orientierung der gesamten europäischen Integration.
Sollten die Berichte, insbesondere der Gesamtbericht des Kollegen Brok in den morgigen Abstimmungen nicht gerade in diesen Fragen verschlechtert werden, werde ich ihnen daher allesamt zustimmen