Zur Verabschiedung des Entwurfs der Charta der Grundrechte im Konvent
Redebeitrag von Sylvia-Yvonne Kaufmann am 03. Oktober
Es war schon ein bewegender Moment, dass gestern in Brüssel der Konvent den Entwurf der Charta der Grundrechte verabschieden konnte. Als Mitglied des Konvents hatte ich zugegebenermaßen in den letzten zehn Monaten mitunter tiefe Zweifel, ob dieses ehrgeizige Projekt je gelingen würde.
Aber die Arbeit ist vollbracht dank des großen Engagements aller Konventsmitglieder. Gestatten Sie mir an dieser Stelle, insbesondere dem Vorsitzenden unserer Delegation im Konvent, Herrn Mendez de Vigo, für seine schier unendliche Geduld und seinen persönlichen Einsatz zu danken.
Die Charta der Grundrechte ist in der Tat ein wichtiges politisches Projekt für die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses. Sie macht die Rechte der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Organen und Einrichtungen der Europäischen Union transparent und schließt zugleich eine Lücke im Grundrechtsschutz für die in der Union lebenden Menschen.
Der nun vorliegende Text der Charta stellt zweifellos einen sensiblen politischen Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Interessenlagen aller 15 EU-Mitgliedstaaten sowie den verschiedenen politischen Parteien und Kräften in der Union mit ihren unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Konzepten und Wertvorstellungen dar. Er hat insofern sowohl Stärken als auch Schwächen.
Aus meiner Sicht hat die Charta eine Schieflage zu Lasten der sozialen Grundrechte. So sucht man vergeblich nach einem Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, obwohl dies in Art. 4 der von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Sozialcharta von 1961 enthalten ist. Auch das in Art. 1 der Sozialcharta und Art. 23 (1) der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 verankerte „Recht auf Arbeit“ hat keinen Eingang in die Charta gefunden. Bei Umwelt- und Verbraucherschutz gelang es leider nicht, Individualrechte für Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen. Bedauerlich ist auch, dass das Asylrecht nicht als Individualrecht für Drittstaatsangehörige verankert wurde.
Andererseits: Die Stärken der Charta sehe ich darin, dass der Grundrechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger auf jeden Fall dem der Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht und die Charta sogar ( Artikel 52) einen weitergehenden Schutz gewährleisten kann. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist die Verankerung des Streikrechts, des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung – und worüber ich mich besonders freue – die völlige Gleichstellung von Männern und Frauen, die sich auch in der Sprache der Charta widerspiegelt.
Klar ist aber auch: Der Beschluss des EU-Gipfels von Köln, wonach die Charta der Grundrechte lediglich feierlich proklamiert werden soll, muss in Biarritz revidiert werden. Das Nein der dänischen Bevölkerung zur Einführung des Euro hat erneut verdeutlicht, dass sich Europa nicht über das Geld zusammennageln lässt. Eine breite öffentliche Debatte über die konkrete Ausgestaltung der europäischen Integration ist mehr als überfällig. In diesem Hohen Hause ist dies unzählige Male gesagt und gefordert worden. Jetzt, mit der Charta wäre der Punkt diesen Absichtserklärungen endlich Taten folgen zu lassen!
Die Kluft zwischen Europäischer Union, ihren Institutionen und den Bürgerinnen und Bürgern muss und kann überwunden werden. Was wir brauchen, ist ein wirklich breiter Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern. Ich bin überzeugt, die Charta bietet die Chance, jetzt einen konstitutionellen Prozess einzuleiten, der die Menschen endlich direkt und umfassend in die politische Ausgestaltung des sich einigenden Europas einbezieht. Einen Prozeß, der sie wirklich als mündige Bürgerinnen und Bürgern ansieht und der sie zum Souverän der europäischen Integration werden lässt.
Deshalb: Von Biarritz muss folgendes Signal ausgehen: 1. Die Charta wird zur öffentlichen Diskussion gestellt und 2. Die Bürgerinnen und Bürger müssen dann spätestens bei den nächsten Europawahlen, das heißt im Jahr 2004, in einer EU-weiten Volksabstimmung darüber entscheiden können, ob die Charta durch Aufnahme in die EU-Verträge Rechtsverbindlichkeit erhält und sie damit ihre Rechte auch individuell vor Gericht einklagen können.