Redebeitrag zur Grundrechtecharta

Dr. Sylvia Yvonne Kaufmann am 14.3.00 in Strassburg

Die Charta der Grundrechte ist höchst dringlich und politisch notwendig. Im Laufe der fortschreitenden Integration ist eine ständig grösser werdende Lücke des Grundrechteschutzes entstanden. Sie ist darin begründet, dass die Nationalstaaten immer mehr Souveränitätsrechte und Kompetenzen an die Union übertragen haben, der Grundrechteschutz der in der Union lebenden Menschen aber auf den nationalen Rahmen beschränkt blieb. Diese Lücke des Grundrechteschutzes muss endlich beseitigt werden. Die Grundrechtecharta ist zugleich eine grosse Chance für Europa. Warum?

1. Weil endlich – nach vielen Jahren – ein Projekt in Angriff genommen wird, dass von vielen engagierten Bürgerinnen und Bürgern, von Nichtregierungsorganisationen, von unterschiedlichen politischen Kräften und auch von diesem Haus schon lange gefordert wird.

2. Sie ist eine Chance, weil der europäischen Integration ein positiver Identitätsschub verliehen werden kann. Und zwar dadurch, dass zum einen die Demokratie gestärkt werden kann, und dass zum anderen über die Fixierung der Rechte für die in der Union lebenden Menschen endlich ganz konkret, für jede und jeden, dieses Europa individuell sichtbar und fassbar werden kann.

Dies halte ich für ausserordentlich bedeutsam. Wir alle haben oft genug erlebt, wie gross das Unverständnis und auch die Ablehnung gegenüber diesem weit entfernten, imaginären „Brüssel“ ist. Wieder und wieder wird zu recht gefragt: Was ist dieses Europa eigentlich‘? Welchen Sinn hat es? Was habe ich denn ganz persönlich davon? Wenn wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger sagen: „Ja, dieses Europa ist auch mein Projekt“, dann kann die Grundrechtecharta viel dazu beitragen.

Was muss die Charta leisten, damit diese Chance tatsächlich genutzt wird?

1. Die Grundrechtecharta darf von ihren Standards her nicht hinter in unseren Ländern bestehende Grundrechte zurückfallen und ebenso wenig hinter diejenigen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention fixiert sind. Gleichzeitig muss sie für das 21. Jahrhundert zukunftsfähig sein, den neuen modernen Entwicklungen in unseren Gesellschaften Rechnung tragen.

2. Sie muss sebstverständlich alle Politiken der Union umfassen, sowohl das Gemeinschaftsrecht, als auch die 2. und 3. Säule. Damit waren alle Organe und Institutionen der Union gebunden, bei ihren Entscheidungen und bei der Entwicklung und Umsetzung von Politik die Grundrechte zu wahren.

3. Die Grundrechtecharta muss die Rechte für alle in der Union lebenden Menschen festschreiben und nicht etwa Rechte für „Menschen 1. und 2. Klasse“ schaffen.

4. Teile ich die im Bericht erhobene Forderung, dass die Grundrechtecharta rechtsverbindlich werden und intergraler Bestandteil des EU-Vertrages sein muss. Hier ist der Rat gefordert, seine Position zu überdenken und zu revidieren. Wenn die Charta kein Vertragsbestandteil und damit auch nicht für jede und jeden individuell einklagbar wäre, würden die Menschen zu recht nur mit Enttäuschung und Unverständnis reagieren und sagen, da in Brüssel ist nichts weiter geschehen, als noch ein Stück Papier zu schreiben.

5. Für uns als linke Fraktion ist von besonderer Bedeutung, dass die sozialen Grundrechte nicht unter den Tisch fallen oder nur halbherzig berücksichtigt werden. Das Recht auf Arbeit, auf Wohnung, auf Gesundheit oder das Recht auf Bildung von Gewerkschaften, das Streikrecht sind unverzichtbar. Wir haben schon Sorge in dieser Hinsicht. Vor allem, wenn man erlebt hat, wie praktisch alle diesbezüglichen Anträge bei den Abstimmungen im Ausschuss weggestimmt wurden.

Wir werden mit all unserem Engagement für die Verankerung sozialer Rechte streiten und hoffen, dass bei der Abstimmung im Plenum dieses Parlament auch in dieser Hinsicht ein Zeichen setzt. Einerseits auf einem Sondergipfel Vollbeschäftigung als Ziel europäischer Politik festzuschreiben und andererseits das Recht auf Arbeit abzulehnen – das ist ein Widerspruch in sich. Deshalb, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen: Die Erwartungen an uns alle sind sehr hoch – enttäuschen wir die Menschen nicht.