Wie weiter mit der europäischen Integration?
Ziviler, demokratischer und sozialer
Eines ist sicher: Im portugiesischen Feira wird zur institutionellen Reform der Europäischen Union substantiell nichts entschieden. Erst der Gipfel im Dezember in Nizza wird zeigen, ob die Fünfzehn ihre Hausaufgaben erledigten. Zur Zeit spricht jedoch alles dafür, dass damit nicht zu rechnen ist, obwohl die EU mit der anvisierten Erweiterung vor der größten Herausforderung ihrer Geschichte steht. Seit Februar wird im Rahmen einer Regierungskonferenz über die Reform der EU verhandelt. Aber obwohl klar ist, dass man sich spätestens jetzt der Frage widmen müsste, wie eine künftige Gemeinschaft von 30 Mitgliedstaaten funktions-, entscheidungs- und handlungsfähig wird und über effektive, demokratische und transparente Entscheidungsmechanismen für eine gemeinsame Politik verfügen kann, kreist die Debatte lediglich um die „left overs“ von Amsterdam. Dabei handelt es sich um Größe und Zusammensetzung der EU-Kommission, die Stimmengewichtung und die Ausweitung von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat. Da es hier um politische Macht- und Einflussfragen geht, verharrt man in Minimalismus.
Zugleich werden für die Öffentlichkeit Reden gehalten, wie der europäische Einigungsprozess fortan gestaltet werden könnte. In Paris sprach sich der langjährige Kommissionspräsident Delors für eine „Avantgarde“-Rolle der sechs Gründungsstaaten der EWG aus. Joseph Fischer dachte jüngst als Privatmann laut über die „Finalität“ der europäischen Einigung in Gestalt einer Föderation nach und entwickelte in Anlehnung an Schäubles „Kerneuropa“ seine Vorstellungen von einem „Gravitationszentrum“. In der Tat ist eine breite öffentliche Debatte über die Zukunft Europas von Nöten. Beide Reden gaben dafür Impulse.
Doch aus meiner Sicht ist vor allem Kritik angesagt. So ist die von Delors, Fischer und anderen Politikern favorisierte „verstärkte Zusammenarbeit“ einiger Staaten im Rahmen der EU für ihren Zusammenhalt und die Integration nicht ungefährlich. Aufgegeben würde das Prinzip der Gleichberechtigung aller Länder, die EU würde von wenigen Kernstaaten dominiert. Der Vertreter des Europäischen Parlaments (EP) bei der Regierungskonferenz, CDU-MdEP Elmar Brok, wandte mit Recht ein, die erreichte Einheitlichkeit der Rechtsordnung, die eine tragende Säule des Einigungswerks ist, könne zerstört werden. Völlig unklar ist, wie die Institutionen der EU, allen voran das EP, ihre Aufgaben wahrnehmen sollen, wenn die Union in ein Mehr-Klassen-Europa aufgeteilt wird. Aus demokratischen Erwägungen ist abzulehnen, dass – ähnlich, wie mit dem Schengener Abkommen bereits praktiziert – ganze Politikbereiche jeglicher parlamentarischen Einflussnahme und Kontrolle entzogen werden. Und nicht zuletzt werden sich die Beitrittskandidaten wohl kaum mit der Rolle eines Hinterhofs der EU abspeisen lassen. Fischer Rede empfinde ich als Flucht in Institutionen und Prozeduren, um der eigentlichen Problematik, der Bestimmung der politischen Inhalte und Ziele der EU, aus dem Weg zu gehen.
Eine zentrale Voraussetzung für die Lösung der institutionellen Fragen ist die klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen europäischer, nationalstaatlicher und regionaler Ebene. Hier gibt es zwischen den Parteien, von der PDS bis hin zur CDU, gewisse Übereinstimmungen. Viel wichtiger ist aber eine an den Bedürfnissen der UnionsbürgerInnen orientierte inhaltliche Bestimmung der EU als Zukunftsprojekt, denn der Schlüssel dafür liegt weder vorrangig und schon gar nicht ausschließlich im institutionellen Bereich. Insofern befindet sich auch die derzeit ablaufende institutionelle Debatte in einer Schieflage, und hier scheiden sich zugleich auch die politischen Geister. Ich halte es für dringend geboten, die Reform der EU mit einer breit angelegten Diskussion über die Gegenwarts- und Zukunftsfragen zu verbinden, die die in der EU lebenden Menschen hier und heute bewegen. Was unternimmt die EU, um angesichts der Globalisierung die Gesellschaften vor den anonym und global wirkenden Marktkräften zu schützen? Was geschieht, um den zumeist gesetzlich verankerten Sozialschutz zu bewahren? Geht auch die EU den Weg kurzfristiger, instabiler Arbeitsverhältnisse, der Privatisierung der sozialen Sicherheit und einer vom Shareholder-Value geprägten Marktwirtschaft, die zu wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschieden, zu zunehmender sozialer Ausgrenzung führt und damit den sozialen Zusammenhalt in der EU gefährdet?
Die BürgerInnen wollen, dass die EU aktiv zum Erhalt und Ausbau des Sozialstaats beiträgt, zumal der nationalen Politik dafür im Zuge der Euro-Einführung wesentliche Instrumentarien entzogen werden. Die soziale Dimension der Union muss dringend gestärkt werden. Geschähe dies, würde „Europa“ wieder attraktiver, der Euro wäre weniger umstritten und die Beteiligung an Europawahlen eine Selbstverständlichkeit. Aber keine etablierte Partei hat zu diesen Fragen befriedigende Antworten gegeben. So will Wolfgang Schäuble der EU keine soziale Verantwortung übertragen, denn die Systeme sozialer Sicherheit dürften „weder harmonisiert noch vergemeinschaftet werden“.
Dabei geht es nicht um die Vereinheitlichung des Sozialstaats, sondern zunächst darum, beispielsweise Wettbewerb mit Sozialdumping zu verbieten oder soziale Verantwortung als Investitionsanreiz festzuschreiben. Dem finnischen Außenminister Erkki Tuomioja ist zuzustimmen, wenn er in seiner Kritik an den Kerneuropakonzepten betont, die Zukunft der EU beruhe auf einer „starken Sozialpolitik“, und Voraussetzung für eine Stärkung der EU seien „weder künstliche Föderalstrukturen noch die Entwicklung der Europäischen Union zu einem Militärfaktor“. Doch anstelle einer Zivil-, Beschäftigungs- und Sozialunion bekommen wir eine Militärunion. Höchst bedauerlich ist, dass die „verstärkte Zusammenarbeit“ gerade unter Rot-Grün und der Mitte-Links-Regierung in Frankreich mit der Aufstellung einer Interventionsarmee und in einer Rüstungskooperation vorangetrieben wird.
Wir brauchen auch kein elitäres Europa à la Fischer, in dem primär eine Elite darüber befindet, was gut für „Europa“ ist. Hier müssen die BürgerInnen mitentscheiden können, zum Beispiel durch Volksentscheide. Gerade die Menschen im Osten Deutschlands wie in den meisten Beitrittsländern haben ein Gesellschaftssystem hinter sich gelassen, in dem – wie der finnische Außenminister anmerkte – „die leninistische Elite sich für berechtigt hielt, auf Grund ihrer vermeintlich wissenschaftlichen Weltanschauung die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung für alle zu definieren“. Diese Erfahrung sollte genügen, um dafür zu plädieren, dass die europäische Integration ein offener historischer Prozeß bleibt. Künftige Generationen können andere Vorstellungen von Europa entwickeln. Sie sollten nicht auf eine vorbestimmte „Finalität“, sei es als Staatenbund oder Föderation, festgelegt werden. Verpflichtet werden müssen sie hingegen auf Werte und Grundrechte, die Gewalt und Rassismus ausschließen. Mit dieser Maßgabe wird derzeit in einem Konvent die EU-Grundrechtecharta erarbeitet. Allerdings wird sie voraussichtlich Stückwerk bleiben, weil sich abzeichnet, dass wesentliche soziale Grundrechte nicht oder nur teilweise aufgenommen werden.
Quelle:
Neues Deutschland, 16.06.2000