Osterweiterung muss ein demokratisches und soziales Projekt werden!

André Brie am 6. September 2000 in Strassburg

In der vom Europäischen Parlament geforderten und am heutigen Mittwoch stattfindenden Debatte zu den Äußerungen des für die Erweiterung zuständigen Kommissars Verheugen erklärt der PDS-Abgeordnete André Brie namens der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke:

Brie stellte fest, dass Verheugens Äußerungen, die nachträglichen Erklärungsversuche eingeschlossen, Vorbehalte und Ängste in der Bevölkerung verstärken, statt sie zu vermindern. Die bisherige Information des Parlaments sei ungenügend. Die notwendige Einbeziehung der Bevölkerung erfordere auch die Beendigung der bisherigen Geheimdiplomatie von Regierungen und Kommission. Ausdrücklich unterstützte Brie die Forderung nach Volksentscheiden in existenziellen Fragen, sie müssten jedoch EU-weit und Befragungen der Völker in den Beitrittsländern sein.

Dass ein deutscher Volksentscheid, wie von Verheugen gefordert, über Wohl und Wehe der Erweiterung entscheiden können soll, nannte Brie „instinktlos und inakzeptabel“. Das Wichtigste sei eine demokratische, soziale und beschäftigungspolitische Orientierung der Erweiterung. Brie kritisierte, dass davon auf allen aktuellen Gebieten bisher wenig zu spüren sei.

Die Osterweiterung müsse zu einem Projekt gemeinsamer Sicherheit in Europa, zu einem Projekt sozialer Solidarität, zu einem Projekt kultureller Begegnung und zu einem demokratischen Projekt werden, das von den Bürgerinnen und Bürgern in Europa gemeinsam entschieden und mitgestaltet werden kann.

Strassburg, 6. September 2000

Text der Rede:

Verheugens Interview hat ein erstes parlamentarisches Nachspiel. Am Mittwoch musste der für die Erweiterung zuständige Kommissar sich der Diskussion im Europäischen Parlament stellen. Im Namen der Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordisch Grüne Linke sprach der PDS-Abgeordnete André Brie:

In meiner Fraktion gibt es unterschiedliche Auffassungen zur geplanten Erweiterung. Ich selbst halte sie für eine historische Notwendigkeit und Chance, die weder durch Unbedachtheiten, undemokratische Verfahren, bürokratischen und nationalen Kleingeist noch durch soziale Rücksichtslosigkeit der Politik gefährdet werden darf.

Herr Kommissar, ich habe keinen Zweifel an Ihrem persönlichen Engagement für die Erweiterung der EU. Ihre Positionen in der Süddeutschen Zeitung veranlassen unsere Fraktion jedoch, sie erstens zu fragen, wie diese Äußerungen zu verstehen sind. Ob Sie es wollen oder nicht, Sie haben mit dieser Art von Öffentlichkeitsarbeit, Ihre nachträglichen Erklärungsversuche eingeschlossen, Vorbehalte und Ängste in der Bevölkerung eher verstärkt, statt sie zu vermindern. Im Juli haben Sie, Herr Kommissar, im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten dunkelste Andeutungen über Schwierigkeiten in manchen öffentlichen Debatten gemacht. Auch auf Nachfrage waren Sie zu Konkretisierungen nicht bereit. Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte das Privileg ein wenig mehr von Ihnen zu erfahren als das Parlament. Natürlich ist ihre Aufgabe heikel und erfordert auch einige Vertraulichkeit. Doch wenn Sie völlig zu Recht die Einbeziehung der Bevölkerung in die Entscheidungsprozesse fordern, dann sollte auch gegenüber den demokratisch gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Völker Schluss mit den Auswüchsen der Geheimdiplomatie von Rat und Kommission sein.

Zweitens: Unsere Fraktion unterstützt entschieden Ihre Auffassung, Herr Kommissar, dass existenzielle Entscheidungen nicht den Bürgerinnen und Bürgern der EU und der Beitrittsländer durch die Regierungen „übergestülpt“ werden dürfen, wie das im Fall des Euro geschehen ist. Es ist höchste Zeit, die Demokratiedefizite der EU zu überwinden. EU-weite Volksentscheide und die Befragung der Bevölkerung in den Beitrittsländern müssten dazu gehören. Ich bin auch ein begeisterter Anhänger der Idee von Volksentscheiden in Deutschland. Dass aber ein deutscher Volksentscheid, und nur das haben Sie, Herr Verheugen, gefordert, über Wohl und Wehe der Erweiterung entscheiden können soll, ist unserer Meinung nach instinktlos und inakzeptabel. Ansonsten werden Sie uns konsequent an Ihrer Seite finden, wenn Sie es mit der demokratischen Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ernst meinen sollten. Allerdings erinnere ich mich, dass auch Sie einen Volksentscheid über den Maastrichter Vertrag in Deutschland abgelehnt hatten.

Drittens: Das Wichtigste, um die Bevölkerungen für die EU-Erweiterung beziehungsweise den Beitritt zu gewinnen, wäre die Sorgen und Hoffnungen der Menschen sehr ernst zu nehmen. Die Erweiterung braucht nicht primär PR-Kampganen, sondern eine demokratische, soziale und beschäftigungspolitische Orientierung. Davon aber ist bisher wenig zu spüren, weder in der Diskussion über eine Grundrechtecharta und die Reform der Union selbst, noch in den Beitrittsverhandlungen. Und das, Herr Kommissar, ist unsere zentrale Forderung: Tragen Sie dazu bei, dass die Osterweiterung der Europäischen Union zu einem Projekt gemeinsamer Sicherheit in Europa wird, zu einem Projekt sozialer Solidarität, zu einem Projekt, das den Menschen den Reichtum europäischer Kultur nahe bringt, zu einem demokratischen Projekt, das von den Bürgerinnen und Bürgern in Europa gemeinsam entschieden und mitgestaltet werden kann – dann haben Sie uns an Ihrer Seite!