Keine positiven Veränderungen in der Türkei, aber negative in der Kommission
André Brie am 14. November 2000 im EP zum Fortschrittsbericht Türkei
Sehr geehrter Herr Präsident,
ich möchte zunächst dem Kollegen Morillon ausdrücklich für seinen realistischen Bericht danken, der die Probleme in der türkischen Politik in vielen Fällen mit kritischer Offenheit und zugleich konstruktiv anspricht. Wem es ernst ist mit der Perspektive eines EU-Beitritts der Türkei, wird Beides für erforderlich halten. In den Monaten seit dem Beschluss des Rates von Helsinki hat es einige interessante Erklärungen und symbolische Akte seitens der türkischen Regierung gegeben, die bedrückende Situation in den türkischen Gefängnissen, die rechtliche, politische, soziale und kulturelle Diskriminierung der Kurdinnen und Kurden, sowie die türkische Zypernpolitik, um nur die wichtigsten Fragen zu nennen, sind jedoch nicht geändert worden. Die mit rechtsstaatlichen und demokratischen Gepflogenheiten unvereinbare staatsrechtliche und faktische Rolle des türkischen Militärs ist zu einer Schlüsselfrage für das weitere Verhältnis zwischen EU und Türkei geworden, die nur mit einem Machtverzicht des Militärs gelöst werden kann.
Auch wenn es in meiner Fraktion unterschiedliche Meinungen zum Morillonbericht gibt und meine grundsätzlich positive Bewertung nicht von allen geteilt wird, ist es klar – aber ich denke, das gilt auch für andere Fraktionen -, dass wir die Kritik in den erwähnten Fragen in keiner Weise mildern werden. Kompromisse sind fast überall, aber nicht hier möglich. Wohl aber ist es erforderlich zu berücksichtigen, welch radikales Ausmaß die innenpolitischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt politisch-kulturellen Veränderungen haben, die der Türkei für den Fall der EU-Mitgliedschaft und bereits im Vorfeld eines Beitrittsprozesses abverlangt werden. Das wichtigste und einzige greifbare Ergebnis ist bisher die Tatsache, dass in der Türkei eine Diskussion und ein gewisser politischer Differenzierungsprozess begonnen haben. Das ist anzuerkennen und muss aktiv unterstützt werden. Allerdings geht es dabei nicht nur um die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien, sondern um ohnehin unerlässliche menschenrechtliche und demokratische Standards.
Die Mitgliedschaft der Türkei auf einer solchen Grundlage, und nicht nur aus geostrategischen Erwägungen der USA und der NATO, würde eine große Bereicherung der Europäischen Union und einen bedeutsamen Schritt zu einem vereinigten Europa darstellen. Dabei übersehe ich die Probleme nicht, die zum Beispiel auch damit verbunden sind, dass die EU in diesem Fall geografisch weit über Europa hinausgreifen und in sicherheitspolitisch äußerst instabile Regionen reichen würde. Dass weder im Zusammenhang mit dem Kandidatenstatus für die Türkei noch in der aktuellen Osterweiterung die strategischen Fragen der europäischen Integrationsperspektive von den Regierungen und, Herr Kommissar, auch nicht von der Kommission, angesprochen und mit dem Parlament diskutiert werden, halte ich angesichts der historischen Konsequenzen geradezu für unverantwortlich.
Es ist meine Erfahrung, die Erfahrung übrigens eines Lebens, dass von radikalen gesellschaftlichen Umbrüchen ebenso weiss wie von der Verweigerung, ihre Notwendigkeit rechtzeitig zu erkennen, dass kritische Offenheit ohne Alternative ist. Alles andere würde nur jenen in der EU und in der Türkei in die Hände spielen, die diese Mitgliedschaft nicht wollen. Und hier, Herr Kommissar Verheugen, beginne ich den von Ihnen vorgelegten Fortschrittsbericht nicht mehr zu verstehen. Anlässlich Ihres Besuches in der Türkei im März haben Sie das Problem der kurdischen Bevölkerung in der Türkei wenigstens noch mit Namen benannt. Ihr Kollege Patten hat vor der Menschenrechtskommission der VN am 27. März menschrechtliche Konsequenz und Offenheit in den Auseinandersetzungen eingefordert. Dass Sie in ihrem Bericht nicht einmal wagen, das Problem beim Namen zu nennen, ist ein trauriger Schritt zurück im Vergleich mit dem Bericht der alten Kommission von 1999. „Wahrheit heißt Übereinstimmung des Begriffs mit seiner Wirklichkeit“ – Georg Wilhelm Hegel wusste das noch. Reale Fortschritte in der Türkei sehe ich bisher nicht oder kaum, aber ich halte sie inzwischen für möglich. Dagegen hat es in der Komission einen realen Rückschritt gegeben. Ein Grund mehr für mich, dem Kollegen Morillon für seine Alternative zum Kommissionsbericht zu danken.