Redebeitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit und zur Zollunion mit der Türkei

André Brie am 1.12.99 vor dem EP

Soweit es die Inhalte der beiden Berichte betrifft, würde mir eine Zustimmung trotz einzelner Defizite relativ leicht fallen.

Es ist gelungen, die politischen Erfordernisse der Zusammenarbeit mit der Türkei in beträchtlicher Klarheit und Konsequenz darzustellen, insbesondere die Notwendigkeit der Einhaltung und Entwicklung der Menschenrechte, darunter der Rechte des kurdischen Volkes und die Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe, die Stärkung der Zivilgesellschaft, die stärkere Einbeziehung nichtstaatlicher Organisationen, die Zurückdrängung von sozialer Ausgrenzung und regionaler Unterentwicklung.

Dennoch wird mir die Entscheidung ausserordentlich schwer gemacht. Die Kommission behauptet in ihrem Vorschlag, in der Türkei sei ein Prozess der Demokratisierung und der Förderung der Menschenrechte eingeleitet worden. Der Ausschuss spricht dagegen von der Notwendigkeit, genau dies zu tun, nicht von einer angeblich bereits bestehenden solchen Entwicklung in der Türkei. Das scheint mir nicht nur wesentlich realistischer, sondern entspricht auch der Einschätzung, die die Kommission selbst noch in ihrer Mitteilung an den Kölner Gipfel am 3. und 4. Juni diesen Jahres über die Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in den Bewerberländern getroffen hat. Gleich zweimal spricht sie dort davon, dass es zumindest in der Kurdenfrage ,,keine merklichen Verbesserungen“ (Zitat) gebe und schätzt angesichts der Stärkung der ultranationalistischen MHP-Partei (Originalton: Kommission) auch die weiteren Chancen als fraglich ein. Mir ist daher völlig schleierhaft, worauf sich unser Optimismus eigentlich gründen soll, und warum die Kommission mit zwei unterschiedlichen Einschätzungen agiert.

Mit aller Eindeutigkeit ist festzustellen, dass es keine reale positive Entwicklung in den aufgeworfenen Fragen gibt. Im Zusammenhang mit der Bestätigung des Todesurteils gegen Öcalan, erklärte der türkische Vizepremier Bahceli von der MHP, Europa dürfe nicht ermutigt werden, sich ,,noch dreister“ in türkische Angelegenheit einzumischen. Regierungschef Ecevit meinte ebenso wie sein Verteidigungsminister, dass man sich an eine eventuelle Entscheidung des Strassburger Gerichtshofes nicht gebunden fühle. Das widerspricht wohl eindeutig den Verpflichtungen, die die Türkei als Mitglied des Europarates eingegangen ist. Eigene internationale rechtliche Verpflichtungen werden in Menschenrechtsfragen nach wie vor offen von den türkischen Behörden missachtet.

Ich halte die ehrliche Öffnung der Europäischen Union für eine Mitgliedschaft der Türkei trotz der sicherlich nicht geringen Probleme für strategisch richtig und notwendig.

Dabei kann es jedoch keinerlei Abstriche an den Forderungen nach Demokratisierung der Verfassung und der politischen Realität, der grundlegenden Verbesserung der Achtung der Menschenrechte, der Achtung der Rechte des kurdischen Volkes und einer politischen Lösung der Kurdenfrage sowie an der Beendigung der Okkupation Nordzyperns geben. Das alles steht bisher vollständig aus. Ich gehe davon aus, dass die Forderung eines entsprechenden Prozesses seitens des Europäischen Parlaments Aufrichtigkeit, Konsequenz und politische Genauigkeit hinsichtlich der Mittel, Signale, Zeitpunke gleichermassen erfordert. Deshalb tritt meine Fraktion dafür ein, die Abstimmung zu verschieben. Die Annahme beider Dokumente wäre unter aktuellen Aspekten ein falsches Signal. Sie könnte kaum anders als Ermutigung der türkischen Regierungspositionen und ihrer Arroganz in der kurdischen Frage verstanden werden.