Eiszeit in Europa
Sozialabbau, Entsolidarisierung, Armut. Welche Wege führen aus der Krise?
Wir schreiben das Jahr 5 der Krise. Armut steigt europaweit und die EU rutscht in eine schwere Rezession. Ein Gipfeltreffen der Regierenden im Europäischen Rat folgt auf den anderen, ohne die Krise zu lösen. Als einziges Lösungsmittel hat die Merkel-Regierung mit Unterstützung einiger reicher Länder eine einseitige Sparpolitik durchgesetzt, die sich in der Zwischenzeit als katastrophal erweist. Die Sparpolitik soll die internationale Wettbewerbsfähigkeit der krisengeschüttelten Länder verbessern. Drastische Kürzung von öffentlichen Ausgaben, die Liberalisierung und Privatisierung von öffentlichem Eigentum und Dienstleistungen und die „Schuldenbremse“ für nationale Haushalte bilden den Kern. Agenda 2010 und Hartz-IV-Gesetze dienen als Vorbild für Reformen der Arbeitsmärkte und Sozialsysteme. In Deutschland haben diese sogenannten Reformen zur wachsenden Spaltung der Gesellschaft geführt. Nach dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung konnten die reichsten zehn Prozent der deutschen Bevölkerung ihren Anteil am Privatvermögen in zehn Jahren von 43 auf 53 Prozent erhöhen. Die ärmsten fünfzig Prozent müssen einen Verlust ihres Anteils von vorher drei auf ein Prozent ertragen. Das Armutsrisiko ist auf 15,6 Prozent gestiegen. Der gewachsene Reichtum ist offensichtlich nicht von oben nach unten durchgesickert, wie von Neoliberalen versprochen. Die sinkende Arbeitslosigkeit beruht hauptsächlich auf der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und dem Ausbau des Niedriglohnsektors. Heute müssen etwa 1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihr Erwerbseinkommen mit staatlichen Zuschüssen aufstocken. Altersarmut ist vorprogrammiert, da die Beitragszahlungen zur Rentenversicherung nicht ausreichen. Auch für Hartz-IV-Empfänger ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich. Steigende Energiepreise setzen Menschen mit geringem Einkommen zusätzlich unter Druck. Die Heizung bleibt im Winter kalt, um Geld zu sparen. Energiearmut betrifft besonders Menschen, die nicht direkt auf Sozialleistungen angewiesen sind, sondern gerade so über der Armutsrisikogrenze leben. Frauen und Kinder sind wieder die Hauptleidtragenden. Und dieses „deutsche Modell“ dient jetzt als Vorbild in der EU. Griechenland ist das bekannteste Opfer der Spekulationen gegen den Euro und der diktierten irrationalen Sparpolitik. Die Hilfszahlungen aus den Rettungsschirmen sind an strikte Sparprogramme gebunden, die von der Troika aus Europäischer Kommission, EZB und IWF überwacht werden. „Gerettete“ Länder verpflichten sich, öffentliche Ausgaben drastisch zu reduzieren. Staatliche Betriebe müssen veräußert und öffentliche Dienstleistungen liberalisiert werden. Dieses Konzept ist einseitig auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Volkswirtschaft ausgelegt, womit die Zerstörung von Arbeitnehmerrechten gemeint ist. Ohne die Erfüllung dieser Auflagen bekommt Griechenland keine Hilfsleistungen. An diesen Geldern verdienen Länder wie Deutschland noch durch die geforderten Zinszahlungen. Die Sparpolitik führt in der griechischen Gesellschaft zu unerträglichen Verwerfungen. Direkt vor Beginn der Krise, im Jahr 2008, hatte Griechenland eine Arbeitslosenrate von 7,7 Prozent. Diese Zahl ist auf ca. 21 Prozent gestiegen, eine Verdreifachung innerhalb von 4 Jahren. Die Jugendarbeitslosigkeit erreicht ca. 54 Prozent. Mittlerweile sind 21,4 Prozent der Bevölkerung nach Erhalt von Sozialtransfers vom Armutsrisiko bedroht, sogar 23,7 Prozent der unter 18-Jährigen. Trotzdem müssen öffentliche Ausgaben wie Rentenzahlungen, Arbeitslosenversicherung und Sozialschutz rücksichtslos reduziert werden. Seit 2011 sind etwa 68.000 Klein- und mittelständische Unternehmen pleitegegangen, mit massiven Entlassungen als Folge. Die Troika fordert zusätzlich, bis zu 150.000 Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen. Immer mehr Bedürftige müssen aus einem kleiner werdenden Topf versorgt werden, sodass Armut und Hoffnungslosigkeit um sich greifen. Die Selbstmordrate hat sich seit Krisenbeginn vervielfacht. Da wundert es kaum, dass die faschistische Partei „Goldene Morgenröte“, die von der Zukunftsangst und der als Demütigung empfundenen Politik der EU-Länder profitiert, von den Bürgerinnen und Bürgern derzeit zur drittstärksten Partei gewählt werden würde. Das Gesundheitssystem steht nach radikalen Kürzungen vor dem Kollaps und Investitionen in öffentliche Bildung werden auf ein Minimum zurückgefahren. Unglaublich, aber Krebskranke mussten für dringende Behandlungen demonstrieren. Arbeitslose verlieren ihren Krankenversicherungsschutz. Es gab den Fall, dass eine Schwangere 15 Tage warten musste, bis sie einen Arzt fand, der ihr ohne Krankenversicherung einen abgestorbenen Fötus aus ihrem Körper entfernte. Solche Horrorgeschichten gehören inzwischen zum griechischen Alltag. Nur wer über ausreichend Privatvermögen verfügt, kann sich Gesundheit und Bildung noch leisten. Die Mittelschicht bricht langsam weg und der gesellschaftliche Zusammenhalt zerfällt. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in Spanien und Portugal beobachten, die ebenso in einer tiefen Rezession stecken. In Spanien übersteigen die Arbeitslosigkeit und das Armutsrisiko sogar die griechischen Verhältnisse. In Portugal wurden seit der Inanspruchnahme des Rettungsschirms etwa 237.000 Jobs zerstört. Trotz dieser bedenklichen Entwicklungen darf für notwendige Investitionen in Sozial-, Gesundheits- und Bildungssysteme kaum Geld aufgebracht werden. Die dogmatisch angewandte neoliberale Umstrukturierung wird nicht infrage gestellt, obwohl die betroffenen Staaten in einem Teufelskreis aus Rezession und steigenden Schulden versinken. Um noch einen daraufzusetzen, diskutieren die Regierungen jetzt über eine drastische Kürzung des EU-Haushalts. Betroffen wären vor allem die Sozial-, Struktur- und Kohäsionsfonds, mit denen sozialer Zusammenhalt in der EU gefördert wird. Ein Europa der Solidarität wird zum Europa der Austerität. Deshalb brauchen wir einen Sozialpakt für Europa.
Armut in all ihren Formen nimmt europaweit zu. Gute Arbeit mit europaweiten Mindestlöhnen ist wichtig zur Bekämpfung von Armut, ebenso Mindesteinkommen. Armut muss aber auf mehreren Ebenen bekämpft werden. Sozialleistungen müssen armutsfest und sanktionsfrei sein, um ein Leben in Würde zu ermöglichen. Ohne europaweite Mindeststandards in der Beschäftigungs-, Sozial- und Umweltpolitik werden sich die Mitgliedstaaten gegenseitig unterbieten, zulasten der Unter- und Mittelschichten. Öffentliche Dienstleistungen, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sind nicht nur für die Bedürftigsten grundlegend, sondern eine Grundfrage für die Zukunft der Demokratie. Wenn wir die „Vererbung“ von Armut verhindern wollen, müssen Kindern beste Startchancen gegeben werden, um ihre Stärken zu entfalten. Unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern. Öffentliche Investitionen in sozial gerechte und nachhaltige Entwicklungen sind in Krisenzeiten wichtiger denn je. Das Öffentliche muss wieder zurück ins Zentrum unserer Gesellschaft. Geld wäre genug vorhanden, es muss nur besser „umfairteilt“ werden. Eine Finanztransaktionssteuer wäre ein erster Schritt, um die Banken und Finanzspekulanten als Verursacher und Profiteure der Krise an den Kosten zu beteiligen. DIE LINKE. lehnt auch eine „EU-Agenda 2010“ entschieden ab. Merkel zwingt dieses Konzept EU-Ländern in schwerer Rezession auf, was einer wirtschaftspolitischen Geisterfahrt gleicht, die selbst im eigenen Lager kritisiert wird. Als Delegation DIE LINKE. im Europaparlament stellen wir uns gegen die Mystifizierung der Bankenkrise zur Staatsschuldenkrise und gegen die Stigmatisierung der „faulen“ Griechen. Es ist unsere Aufgabe, Menschen über solche Vorurteile aufzuklären und Solidarität mit den notleidenden Ländern im Süden und in Osteuropa zu organisieren.