Mit rotem Faden durchs Labyrinth
Interview in Neues Deutschland vom 4. August 2010
ND: Herr Bisky, was hat Europa, was Deutschland nicht hat?
Bisky: Es ist etwas mehr Welt. Deutschland ist ein Teil von Europa, man sieht Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Die Deutschen sind zahlreich, spielen deshalb gerne eine vordere Rolle, wie Frau Merkel es uns vortanzt. Aber Europa ist eben bunter, ein Glück.
Sie haben es also nicht bereut, im vergangenen Jahr von Berlin nach Brüssel gegangen zu sein?
Nein. Ich hätte es bereits in der Legislaturperiode zuvor machen sollen. Aber die Frage ist, ob ich dann meinen Pflichten als Parteivorsitzender hätte so nachkommen können – wahrscheinlich nicht. Zu meiner Freude durfte ich auch feststellen, dass im Europaparlament etwas vernünftiger miteinander umgegangen wird. Die Fraktionen dort kesseln sich nicht ideologisch so borniert ein wie im deutschen Bundestag.
Mit wem sprechen wir jetzt: mit dem Vorsitzenden der Partei der Europäischen Linken oder mit dem Vorsitzenden der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken / Nordische Grüne Linke?
Ich hoffe mit beiden, zumindest jetzt noch. Mein Wunsch ist es, dass auf dem nächsten Kongress der Europäischen Linkspartei im Dezember in Paris eine Jüngere oder ein Jüngerer die Parteiführung übernimmt. Die Europäische Linkspartei wächst, sowohl an Mitgliedern wie an Parteien. Meine Hoffnung bleibt, dass die Linke in Europa versteht, dass sie nur gemeinsam etwas bewegen kann. Daran habe ich jedenfalls gearbeitet, seitdem ich im November 2007 den Vorsitz von Fausto Bertinotti übernommen habe. Eine Vereinzelung der linken Parteien finden nur die Konservativen lustig. Das will ich nicht.
Wen wünschen Sie sich an der EL-Spitze?
Ich habe drei Vorschläge, die ich dem Vorstand im September unterbreiten werde.
Und die heißen?
Wenn das »Neue Deutschland« der Vorstand der Europäischen Linkspartei wäre, würde ich sofort damit rausrücken. Ich möchte mich an faire Umgangsregeln halten.
Den Vorsitz der linken Fraktion im Europaparlament werden Sie aber behalten?
Ja. Es gibt gegenteilige, interessengesteuerte Gerüchte, aber die entsprechen nicht der Wahrheit.
Wer streut solche Gerüchte?
Das weiß ich nicht. Ich habe es längst aufgegeben, nach den Quellen von Gerüchten zu suchen.
Europäische Linkspartei und die konföderale Fraktion mit ihrem nicht leicht einprägsamen Kürzel GUE/NGL sind ziemlich komplizierte Gebilde. Zur Fraktion gehören 15 Abgeordnete aus Parteien der Europäischen Linken und 20 aus Parteien, die der Europäischen Linken nicht angehören. Die EL wiederum vereinigt 34 Parteien aus 23 Ländern, davon aus fünf Ländern, die nicht zur EU gehören. Zugleich ist die Europäische Linke in einem Drittel der EU-Staaten gar nicht vertreten und hat in acht EU-Ländern gleich mehrere Organisationen als Mitglied oder Beobachter. Finden Sie sich selbst in diesem Labyrinth noch zurecht?
Ich habe einen roten Faden in diesem Labyrinth, an dem ich mich festhalte. Der Zustand der Linken in Europa ist ein Ergebnis der Epochenwende, da ist viel eingebrochen und zersplittert. Die GUE/NGL ist die Antwort auf diese Entwicklung auf der parlamentarischen Ebene, wir versuchen auf konföderaler Basis miteinander Politik zu machen. Konföderale Basis heißt, dass keiner dem anderen etwas vorschreiben will oder kann. Jedes Segment vertritt seinen eigenständigen Weg und zugleich bemühen wir uns, daraus ein gemeinsam befahrbares Verkehrsnetz der Linken in der EU zu machen.
Die EL ist dagegen eine Antwort auf Parteiebene, die nicht an die Grenzen der EU als Teil Europas gebunden ist. Wir versuchen, die Linke in Europa politisch zu koordinieren und organisatorisch zusammenzuführen. Dies geschieht auf freiwilliger Basis. Mancher hat gemeint, das wäre erfolglos. Unsere Entwicklung seit Gründung der EL im Mai 2004 in Rom zeigt das Gegenteil. Die Europäische Linkspartei ist ein guter Verständigungsort für Linke aus Ost und West. In vielen Fragen – etwa bei den Themen Soziale Gerechtigkeit, Frieden, Frauen und Umwelt – zeigt sich bereits ein großer Vorrat an gemeinsam entwickelten Positionen, mit denen wir auf der europäischen Bühne agieren. Besonders die friedenspolitischen Positionen sind ein Markenzeichen der Linken, wir wollen keinen Mix von Außen- und Militärpolitik. Ich hoffe, dass die EL diese Entwicklung fortsetzt und auch für Generationen, die meiner folgen werden, eine verlässliche Grundlage für die Suche nach Gemeinsamkeiten und eine zunehmend einflussreichere Kraft in Europa sein wird.
Vor einem guten Jahr war die Europäische Linke mit ihrer gemeinsamen Plattform zu den Europawahlen öffentlich einigermaßen präsent. Seitdem ist es eher stiller geworden um die EL.
Medial ist es stiller geworden, aber wir arbeiten intensiv. Zunächst einmal: Die Europäische Linke hat 2009 gegenüber 2004 insgesamt verloren, in einigen Ländern wie Italien heftig, obwohl wir eine gemeinsame Wahlplattform hatten. Ich wage nicht zu fragen, wie das Ergebnis gelautet hätte, wenn wir auch die nicht gehabt hätten.
Die EL hat sich daraufhin natürlich neu verständigen müssen. Wir haben jetzt ein Papier, das ich im Juli den Vorsitzenden der Mitgliedsparteien übergeben habe. Darin werden Grundpositionen für unsere Politik in Europa zusammengefasst, wir werden in der Öffentlichkeit wieder stärker erkennbar sein und das aufarbeiten, was in der Wahlplattform noch nicht stehen konnte oder vielleicht aufgrund der vielen Erfahrungen in den Krisenjahren jetzt auch etwas anders akzentuiert werden muss. Es ist kein neues Parteiprogramm, weil wir mit den Gründungsdokumenten und der Wahlplattform immer noch gut ausgestattet sind. Es geht mehr um eine Art Aktionsprogramm, das die Akzente beschreibt, die wir in Europa weiter setzen wollen. Im September werden wir darüber in den Leitungsgremien erneut beraten, damit im Dezember auf dem Kongress der Europäischen Linken dazu ein Beschluss gefasst werden kann. Ich würde es begrüßen, wenn dann von der Mitgliedschaft das Dokument breit diskutiert werden könnte. Dann haben wir eine Marschrichtung für die nächsten Jahre.
Auch die Wähler sind weniger an ideologischen Akzenten interessiert als an konkreter Vertretung ihrer Belange. Was kann die Linke im Euopaparlament da vorweisen?
Wir haben beispielsweise einen Antrag zur Beschäftigungspolitik durchsetzen und Angriffe auf die Arbeitszeitregelung für Kraftfahrer zurückweisen können. Natürlich nicht allein, wir sind ja nur 35 von 736 Abgeordneten. Wir haben Akzente setzen können, was die Menschenrechte anbelangt und natürlich unsere Vorschläge zur Überwindung der Krise eingebracht. Unsere Abgeordnete Eva-Britt Svensson leistet als Vorsitzende des Frauenausschusses eine hervorragende Arbeit. Aber vieles, was die Linke in Brüssel macht, selbst was sie erfolgreich macht, findet medial wenig Widerspiegelung.
Welche Streitfragen gibt es in der Europäischen Linken?
Es gibt natürlich unterschiedliche Auffassungen, beispielsweise was die Atomenergie anbelangt. Jeder weiß, dass in der französischen Linken anders darüber geredet wird als bei unseren Kollegen aus Schweden. Es gibt auch Meinungsunterschiede oder nicht ausdiskutierte Fragen darüber, was wir mit der Linken in Europa überhaupt anfangen und bewirken können. Das ist in einer konföderalen Fraktion unvermeidlich, damit muss man und können wir leben.
Die Haltung zur EU ist auch in der LINKEN in Deutschland nicht einheitlich. Jüngst forderte ein früherer Europaabgeordneter darüber zu diskutieren, ob die LINKE die EU nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags nicht generell in Frage stellen müsse.
Diese Diskussion bringt nichts, ich halte sie für überflüssig. Als ob die Linke in ihrer gegenwärtigen Lage über das Schicksal der EU entscheiden könnte! Das scheint mir etwas vermessen zu sein. Ich möchte eine realitätsbezogene Debatte.
An den Beschlüssen der Parteitage der LINKEN von Essen und Rostock, die Europäische Union als Institution zu akzeptieren, sie aber friedlicher, sozialer, demokratischer zu machen, wird also nicht gerüttelt?
Es kann gerüttelt werden, es herrscht Meinungsfreiheit bei der LINKEN. Aber wer die europäische Vereinigung rückgängig machen will, der begeht einen politischen Fehler. Wir müssen versuchen, Veränderungen herbeizuführen, aber die EU abschaffen zu wollen, wäre die falsche Botschaft. Ich bin ein Kritiker dieser Union und habe dafür genug blaue Flecken abbekommen von unseren Nicht-Freunden. Dennoch sage ich: Ich möchte, dass diese Europäische Union erhalten bleibt und verbessert wird. Dieser Europäischen Union ist viel zu verdanken, das kann man nicht einfach so opfern. Und dann höre ich ja auch von befreundeten Linken, dass die Europäische Union ein Instrument des Imperialismus sei. Ich wundere mich nur, wieso die sich dann aushalten lassen von den im Parlament gezahlten Diäten des Imperialismus.
Gibt es vergleichbare Auseinandersetzungen in anderen Mitgliedsparteien der Europäischen Linken?
Es gibt in allen Mitgliedsländern der EL Konflikte ähnlicher Art. Leider investiert die Linke viel zu viel Kraft in überflüssige Diskussionen, statt alle Kraft daruf zu verwenden, konkrete Vorschläge auszuarbeiten, die die Menschen überzeugen.
Der Kommunist Leo Trotzki forderte einst die Vereinigten Staaten von Europa. Das ist 80 Jahre her und er wurde auch von eigenen Genossen dafür befehdet. Der belgische Europaabgeordnete Guy Verhofstadt, ein liberaler Politiker und ehemaliger Ministerpräsident seines Landes, plädiert erneut dafür. Müsste die Linke nicht den Mut haben, sich zweifelsfrei für eine engere und größere politische und soziale Einigung in Europa einzusetzen, vielleicht auch Motor für die Vision Vereinigter Staaten von Europa zu sein? Ob das Vereinigte Staaten heißen muss, weiß ich nicht.
Wählen Sie einen anderen Begriff.
Wir sind uns wahrscheinlich einig, dass Europa heute mehr sein muss als eine Gruppe selbstständiger Staaten, die alle ihre eigene Politik machen. Im Kern haben wir in Europa einen Prozess der Gouvernementalisierung der europäischen Politik, das heißt: die Regierungschefs treffen sich, die Ministerräte und so weiter. Erst dann kommt das Parlament. Milliarden Euro werden zum Wohle der Banken ausgegeben, ohne dass das Parlament befragt werden muss. Das Europäische Parlament hat ein paar Mal gezeigt, dass es selbstbewusst auftreten kann, beispielsweise bei der Ablehnung des SWIFT-Abkommens zum Bankdatentransfer an US-Behörden. Wenn auch halbherzig und wenn auch die Parlamentsmehrheit dann wieder eingeknickt ist.
Ich meine, dass man auf dem Weg der parlamentarischen Mitsprache und Mitentscheidung vorangehen muss. Der Genosse Trotzki hatte mit den Vereinigten Staaten von Europa eine vernünftige Idee. Allerdings schwebte ihm wahrscheinlich so etwas ähnliches vor wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Als eine Kopie davon möchte ich Europa nicht haben.